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Gesellschaft & Religion Begegnung mit Nachhall: Kaffee-Küsu und die Kunst des Lebens

Bald geht wieder ein Jahr zu Ende – und wir alle haben Begegnungen gemacht, die uns bereichert, verstört, überrascht oder bewegt haben. Radio SRF 2 Kultur widmet ihnen eine Adventsserie. Zum Auftakt: eine Begegnung mit einem ehrlichen Kerl, dessen Leben sich in einer Sekunde drastisch veränderte.

Ich war kürzlich bei Küsu. Küsu betreibt im Nachbardorf ein Fachgeschäft für Kaffeemaschinen. Eins, das weit über die Region hinaus bekannt ist, weil Küsu ein grundehrlicher und grundanständiger Kerl ist, der niemandem eine 2000-fränkige Maschine aufschwatzt, wenn's eine günstige auch tut. Und weil unsere hochgeschätzte «Quick Mill Retro», die wir vor einigen Jahren bei ihm erstanden hatten, eines Morgens aus allen Fugen spritzte, brachte ich sie ihm zur Reparatur.

Etwas war anders als sonst

Küsu, ein Endvierziger mit hoher Stirn, modischem Bärtchen und schwerem Ohrring, den alle Küsu nennen, weil er sich allen so vorstellt, schaute sich die Maschine kurz an. Sagte, da sei bloss die Kolbendichtung kaputt, ich solle doch schnell nach hinten in die Werkstatt kommen, es sei ja eh nicht viel los, dann könne er die Maschine gleich auch noch putzen und entkalken.

Er ging voran, stellte das Gerät auf die Werkbank, begann mit Schraubenzieher und Ringschlüssel zu hantieren, und erst jetzt fiel mir auf, dass er anders aussah als zwei Jahre zuvor, als ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Er hatte abgenommen und machte – wie soll ich sagen – einen durchsichtigeren Eindruck. Zudem war mir aufgefallen, dass er ganz leicht hinkte.

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«Berührt, bewegt, beglückt – Begegnungen mit Nachhall»: Wir widmen uns im Advent besonderen Begegnungen: 1. bis 24. Dezember, jeweils werktags um 16:45 Uhr auf Radio SRF 2 Kultur.

Alle Beiträge der Adventsserie können Sie hier nachhören.

Eine Sekunde, in der sich alles veränderte

Auf meine zaghafte Nachfrage begann er zu erzählen, wie er und seine sieben Töffkollegen im Mai 2013 auf der Rückfahrt von einem Motorradtreffen im Osten Tschechiens in einen schweren Unfall verwickelt worden seien. Ein entgegenkommender Autofahrer war am Steuer sekundenkurz eingeschlafen und frontal in die Töffgruppe gerast.

Küsus Kumpel E., der an der Spitze gefahren war, starb noch an der Unfallstelle. Zwei Kollegen, die auf Position drei und vier unterwegs waren, wurden leicht verletzt. Die hintersten vier konnten ausweichen und kamen mit einem Schrecken davon.

Küsu war der zweitvorderste. Er kollidierte mit dem Auto, erlitt schwere innere Verletzungen, wurde im nahen Spital notoperiert und wenig später in die Schweiz geflogen. Aortariss, zigfache Beckenfraktur, ein beinahe zerfetzter Darm – heisst: vier Monate Spital, anderthalb Jahre Rehabilitation, 13 Operationen mit Vollnarkose, während Wochen künstliche Ernährung, noch jetzt hat er kein Gefühl im rechten Bein – darum das leichte Hinken –, und in seinem Laden steht er erst wieder seit wenigen Monaten.

Ganz bei der Sache

Soweit Küsus Geschichte. Es ist eine Geschichte, wie man sie immer mal wieder hört: Einer hat Pech, einer hat Glück, und der, der Glück hat, wird meist religiös oder stellt sein Leben sonstwie auf den Kopf.

Küsu aber trat weder in eine Freikirche ein, noch schwor er dem Töfffahren ab, und ohnehin war es weniger die Geschichte an sich, die mich an- und berührte, als vielmehr die Art und Weise, wie Küsu sie mir erzählte: nämlich – obwohl er sie bestimmt schon hundertmal geschildert hatte – mit sehr viel Aufmerksamkeit, Bewusstheit und Zugewandtheit. Er redete mit mir und zu mir, wollte, dass ich verstand, liess mich Anteil nehmen an seinem Leben. Kurz: Er war ganz bei der Sache.

Fast eine Stunde lang stand ich schliesslich in Küsus Werkstatt. Ganz am Schluss, als unsere «Quick Mill» wieder zusammengesetzt war und sauber geputzt auf dem Tisch stand, fragte ich ihn unnötigerweise: «Und jetzt, Küsu, lebst du anders als vor dem Unfall?» Und er sagte, was ich längst wusste: «Ich nehme mir heute einfach mehr Zeit – für mich und die anderen.»

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