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Deutschland nach der Wahl «Man verwaltet die Gegenwart, statt die Zukunft zu gestalten»

Nach einem seltsam uninspirierten Wahlkampf sind die Würfel in Deutschland gefallen: Die AfD zieht mit 13 Prozent in den Bundestag ein. Wie haben Kulturschaffende die Wahl erlebt? Der Schweizer Autor Jonas Lüscher lebt seit 17 Jahren in Deutschland und hat die Wahl aufmerksam verfolgt.

SRF: Jonas Lüscher, wie nahe ging Ihnen der Einzug der AfD in den deutschen Bundestag?

Jonas Lüscher: Mir ging er ziemlich nahe. Es war die erste Bundestagswahl, bei der ich mitwählen durfte, weil ich seit zwei Jahren neben der schweizerischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft habe. Das hohe Wahlresultat der AfD ist für mich schockierend und aufwühlend.

Zur Person

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Der Schweizer Autor Jonas Lüscher (1974*) lebt seit 17 Jahren in Deutschland. Er ist zurzeit mit seinem Roman «Kraft» für den Schweizer Buchpreis 2017 nominiert.

Die AfD ist nun die drittstärkste Kraft im Bundestag, die Mitteparteien haben grosse Verluste erlitten. Wie wird sich die Debattenkultur dadurch verändern?

Das ist schwer vorauszusagen. Fest steht: Über 90 Abgeordnete der AfD werden im Bundestag sitzen – darunter seltsame Gestalten wie Verschwörungs-theoretiker, Antisemiten oder offene Holocaust-Leugner. Das kann grauenvoll werden, was die Debattenkultur betrifft.

Was die AfD politisch veränden kann, ist eine andere Frage. Als politische Kraft sind die 13 Prozent wiederum wenig – zum Glück.

Neue Ideen für die Zukunft wurden in diesem Wahlkampf kaum verhandelt – woran liegt das?

Es scheint einen Konsens zu geben, dass man Merkel in ihrer Ablehnung gegenüber allem Visionären und Utopischen folgt. Man verwaltet den Alltag, die Gegenwart, statt eine Zukunft zu gestalten.

Dieser Konsens hat sich in den letzten Jahren durchgesetzt. Und das führt zu dieser politikmüden, fast unpolitischen Stimmung im Land.

Wenn sich grosse Teile der Politik um Besitzstandwahrung kümmert: Woher sollen in Zukunft neue Ideen kommen?

Die einzige Partei, die eine Idee hat, in welche Richtung sich die Gesellschaft entwickeln soll, ist die AfD – auch wenn ihr eine rückwärtsgewandte Entwicklung vorschwebt.

Die anderen Parteien müssen anfangen, diese Zukunfsthemen in die Hand zu nehmen. Denn diese liegen schon lange brach und man hat sich in der Politik beim Verwalten ausgeruht.

Das lief auch lange gut für Deutschland: Weshalb sollte man eine nervöse Politik betreiben, wenn man mit der ruhigen Hand gut fährt? Aber irgendwann gibt es einen Reformstau. Dieser muss nun angegangen werden.

Die AfD richtet sich gegen sogenannte «Eliten» – und damit auch gegen Kulturschaffende. Können diese etwas tun, um den Graben in der Gesellschaft zu schliessen?

In Deutschland gibt es keine «Classe Politique», der Elitendiskurs ist schlichtweg Wahlkampf-Rhetorik. Innerhalb dieser Rhetorik steht man als Kulturschaffender auf verlorenem Posten. Wenn man sich intellektuell betätigt, ist man für bestimmte Kreise per se nicht glaubwürdig.

Es ist aber nicht unsere Aufgabe, uns dem Niveau dieser Debatte anzupassen. Wir müssen vielmehr darauf bestehen, dass die Dinge kompliziert sind und es keine einfache Lösung gibt. Diese komplexen Diskurse müssen wir als Kulturschaffende am Laufen halten.

Hinweis: Dies ist eine korrigierte Version des ursprünglichen Online-Artikels.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Kompakt, 25.9.2017, 7:20 Uhr

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