Volker Gerhardt, mehrere Philosophen – unter anderem Hans Joas oder Kurt Flasch, sowie Sie selbst – thematisieren in ihren neuen Büchern das Thema Religion. Haben die Philosophen die Gretchenfrage neu entdeckt?
Volker Gerhardt: Es wäre ein Armutszeugnis für die Philosophie, wenn sie die Frage, mit der sie vor 2600 Jahren begonnen hat und die jeden ihrer grossen Denker bewegte, neu entdecken müsste. Auch in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, von Wittgenstein über Jaspers, Ricœur und Horkheimer, war das Gottesproblem gegenwärtig.
Denkt ein Philosoph anders über Religion nach als ein Theologe?
Es gibt viele Formen, Philosophie zu betreiben, und man wird auch die Theologen nicht über einen Kamm scheren können. Deshalb sage ich jetzt nur, wie ich das philosophisch-theologische Nachdenken verstehe: Vor allem muss man die Religion im Zusammenhang mit der Bewältigung des menschlichen Lebens denken: Was bedeutet uns Menschen eigentlich die Welt und was unser eigenes Leben? Überdies muss man die Beziehung zwischen Wissen und Glauben klären, um Gott rational verstehen zu können. Nur wer Verstand hat, kann überhaupt glauben. Philosophische Theologie wird deshalb «rationale» oder, wie man früher sagte, «natürliche Theologie» genannt.
Warum haben Sie selber eine Theologie geschrieben?
Weil ich den Anspruch habe, selber zu denken, und dabei nicht umhinkomme, manches, was heute etwa über Gott gesagt wird, für reichlich gedankenlos zu halten.
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Zum Beispiel?
Gott muss es nicht «geben», so wie es den Mond und die Sterne gibt; ja, es darf ihn so nicht einmal geben, wenn ein Glaube an ihn sinnvoll sein soll. Die Frage, ob es Gott gibt, ist so platt formuliert gar nicht interessant.
Was ist denn Gott für Sie?
Das Göttliche ist vielmehr der Sinn des Sinns: Es ist die Bedingung dafür, dass die Welt und alles, was wir darin tun, überhaupt Bedeutung für uns haben kann. Gott ist der Grund allen Sinns, der uns wiederum nur als ein menschlicher Sinn gegenwärtig sein kann. Deshalb ist mein Buch ein Versuch über das Göttliche, der sich auf den Sinn des Sinns richtet.
Und woran glaubt ein Philosoph?
Kein Mensch kann über Wissen verfügen, ohne an das Wissen und die positiven Effekte des Wissens auch zu glauben. So gesehen, sind die Menschen, die besonderes nachdrücklich auf das Wissen setzen, also die Wissenschaftler und Philosophen, die gläubigsten Menschen. Dieser Glaube an den rationalen Zusammenhang von Welt und Wissen, zu dem auch das bewusst handelnde Individuum gehört, wird zum Glauben an das Göttliche, wenn die Stimmigkeit, die ich darin erkenne, schier unglaublich ist – und dennoch von mir angenommen wird.
Die Philosophie hat sich immer wieder mit dem sogenannten Theodizee-Problem auseinandergesetzt, mit der Frage, inwiefern sich Gott rechtfertigen lasse angesichts des Leidens in dieser Welt. Kant meinte, alle diese Versuche müssten scheitern als ein klägliches «Vernünfteln». Scheitert die Vernunft an Gott?
Ganz im Gegenteil: Nur eine Vernunft, die im Ganzen der Welt ihr Gegenüber hat, kann sich in den erfahrenen Widersprüchen der Welt und im erlebten Leiden durchgängig als Vernunft verstehen.