Dass heute immer weniger Menschen Hilfe und Beistand in den Pfarrhäusern suchen, ist nicht neu. Trotzdem ist es den beiden grossen Kirchen in der Schweiz gelungen, mit dem ökumenischen Angebot «Seelsorge.net» vor allem junge Menschen zu erreichen. Die Seite holt sie dort ab, wo sie sich häufig aufhalten: im Internet. Mit wenigen Klicks zur Seelsorge – das klingt zeitgemäss.
Bei uns müssen sie sich nicht physisch zeigen.
Das Projekt war nicht nur zu Corona-Zeiten sehr gefragt. Auch heute erhalten die Seelsorgenden monatlich über 100 neue Anfragen. Im Schnitt beantworten die ehrenamtlich Tätigen etwa 580 Mails pro Monat.
Mehr Zeit für die Hilfe
Pascal Gregor, Leiter von «Seelsorge.net», berichtet, dass sich heute vor allem Menschen mit Depressionen an die Plattform wenden. Auch Beziehungsprobleme und vor allem schambehaftete Themen wie sexuelle Orientierung spielen immer wieder eine Rolle.
Beim schriftlichen Austausch sei stets völlige Anonymität gewährleistet. «Scham ist ein grosses Thema», meint Gregor, «deshalb kommen die Menschen zu uns. Bei uns müssen sie sich nicht physisch zeigen.»
Auch in der schriftlichen Form sieht er einen Vorteil: Sowohl die Betroffenen als auch die Seelsorgenden könnten sich ihre Nachricht gut überlegen. Da nähmen sich die 35 ehrenamtlichen Helfer und Helferinnen auch gerne einmal eine Stunde Zeit für einen gut durchdachten Text.
Ein Dienst mit eigenen Qualitäten
Aber auch für die Hilfesuchenden sei das Verfassen ihrer Nachricht Teil der Lösung, erklärt Pascal Gregor: «Ähnlich wie Tagebuchschreiben, kann das bereits helfen, Resilienz aufzubauen.» Eine Stärke der Internet-Seelsorge sei es, dass sie Zeit zur Reflexion biete.
Mit einem einzelnen Schriftwechsel ist es im Übrigen nicht getan: Der Gedanke sei vielmehr, die Betroffenen langfristig auf ihrem Weg zu begleiten.
Dass das heute nicht mehr im persönlichen Kontakt verankert ist, sondern für die User und Userinnen meist per Smartphone geschieht, das sieht Pascal Gregor pragmatisch: «Für sie ist das ein einfaches, niedrigschwelliges Instrument, um zur Seelsorge zu kommen. Physisch in ein Pfarrhaus zu gehen – das machen heute wirklich die wenigsten.»
Dennoch räumt er ein, dass die digitale Seelsorge den realen, zwischenmenschlichen Kontakt nicht ersetze. «Seelsorge.net» decke stattdessen etwas ab, das die Kirchen mit ihren bisherigen Angeboten nicht leisten könnten. Somit sei das digitale Angebot als Ergänzung zur klassischen Seelsorge zu verstehen, mit einer ganz eigenen Qualität.
Sinnstiftende Arbeit für Seelsorgende
Finanziell entlohnt werden die Seelsorgenden, unter ihnen Pfarrpersonen, Psychologen und Sozialpädagoginnen, nicht. Dafür fehle es an Budget. Sie profitierten aber dennoch, sagt Pascal Gregor, denn sie erlebten die Tätigkeit als sinnstiftend.
Mit ihrer Arbeit hätten sie die Möglichkeit, Menschen in schwierigen Situationen beizustehen und Lösungen anzubieten. Er betont: «Alle Seelsorgenden machen diese Arbeit sehr gerne.»