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Kunst Poesie der Grossstadt: Wenn aus Plakaten Kunst wird

Man kennt sie aus Paris oder Berlin: dicht bepflasterte, mit Plakaten zugeklebte Wände. Anfang der 1950er-Jahre erhoben die Affichisten dieses Material zur Kunst und schufen bunt-geschichtete Werke. Zu sehen im Museum Tinguely: eine Ausstellung, die die Sehnsucht nach Grossstadtluft weckt.

Heute lassen Sie Touristen auf der Suche nach urbanem Flair zum Fotoapparat greifen. In der Nachkriegszeit liessen Sie das Herz der so genannten Affichisten höher schlagen: übereinander geklebte Plakate, ausgebleichte Flugblätter, bekritzelte Papieranschläge.

Die Strasse ist ein unerschöpflicher Quell

Affichisten und Plakatabreisser: So nannten sich die Künstler, die Anfang der 1950er-Jahre vor allem in Paris aktiv waren. Nach dem französischen Wort für Plakat, «Affiche» – denn sie machten Kunst aus Plakaten.

Plakate, die sie in den Strassen fanden. Wenn sie durch die Stadt flanierten und Wände absuchten: nach Theaterprogrammen, Filmplakaten, Werbungen und Wahlplakaten, oft in unzähligen Schichten übereinander gekleistert.

Die Ausstellung

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Die Ausstellung «Poesie der Grossstadt. Die Affichisten» ist bis zum 11. Januar 2015 im Museum Tinguely in Basel zu sehen.

Bis in die 1980er-Jahre wurden in Europa mehrheitlich Papierplakate verwendet, die nicht mehr aktuellen Affichen wurden einfach überklebt. So bildete sich ein vielschichtiger Karton, der den Affichisten als Material für ihre Kunst diente. Waren die Plakate verwittert, zerrissen oder bemalt, gefielen Sie den Affichisten umso besser.

Sie lösten die Plakatschichten oft in Nacht- und Nebelaktionen ab, wählten bestimmte Ausschnitte, klebten sie auf Leinwände oder verpassten Ihnen einen Rahmen.

Eingriffe und Zufälle legen Geschichten frei

Einige Affichisten griffen zusätzlich selber in die Plakat-Werke ein. So wie der Italiener Mimmo Rotella, der mit einem Messer Muster auf die Plakatoberfläche ritzte. Andere, zum Beispiel François Dufrêne, interessierten sich für die Rückseiten der Plakate, die Farbe und Papierfetzen vom darunterliegenden Plakat angenommen hatten.

Der Affichist Jacques Villeglé, ein 88-jähriger Bretone, hielt den Eingriff in die Schichten so gering wie möglich: «Ich wollte und musste gar nichts mehr machen. Die Arbeit wurde schon ganz natürlich von vielen verschiedenen Mitwirkenden erledigt.» Mit Mitwirkenden meinte er das Wetter, Passanten, Zeit.

Die teils sehr grossformatigen, immer mehrschichtigen Plakatwerke in der Ausstellung wirken sehr modern: die Farben, das zufällige Zusammenspiel der Sujets, die Buchstaben. Das Papier ist von schlechter Qualität, die Farben blättern ab – Flugblätter, Theateraffichen und Werbesprüche waren schliesslich nicht dafür gedacht, einmal im Museum zu hängen. Sondern sollten lediglich für ein paar Wochen in den Strassen von Paris oder Rom um die Aufmerksamkeit der Passanten buhlen.

Sehnsucht nach Flanieren und Entdecken

Der Blick in eine Ecke in den Museumsräumen: links ein paar Bilder, rechts kleine Bildschirme an der Wand.
Legende: Das Museum Tinguely stellt die Plakatkunst der Affichisten in neue mediale Zusammenhänge. Museum Tinguely/Bettina Matthiessen

Die Ausstellung im Museum Tinguely zeigt nicht nur die vielschichtigen, bunten und so unterschiedlichen Décollagen der Affichisten. Sie stellt deren Schaffen auch in einen grösseren Zusammenhang, jenen der «Nouveaux Réalistes»: eine Künstlergruppe, die sich 1960 aus Dufrêne, Villeglé und weiteren Künstlern, auch Jean Tinguely, formierte. Die «Nouveaux Réalistes» waren, wie die Affichisten auch, sehr offen in ihrem Zugang zur Kunst: Sie umfassten in ihrem Verständnis auch Text, Poesie, Happening, Performance, Film, Fotografie und theatrale Aktion.

Die Affichisten gelten als Wegbereiter der «Nouveaux Réalistes». Und so stellt das Museum die beiden Strömungen nebeneinander, künstlerische Parallellen werden sichtbar. Wir sehen das Animationsvideo «Pénélope», das Villeglé und Raymond Hains 1948 in vierjähriger Arbeit schufen. Und wir sehen experimentelle Fotografien von Hains, surrealistisch verzerrt.

In den Räumen des Museums Tinguely ist eine grosse Lust zu spüren. Eine Lust auf Sprache, auf Bedeutungssuche, auf bildgewaltiges Erleben. Es überkommt einem die Sehnsucht nach Flanieren und Entdecken. Und danach, wieder einmal tief die bunte Luft einer grossen Stadt einzuatmen.

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