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«Babylon» von Yasmina Reza Ein Biohuhn als Partykiller

Yasmina Reza demaskiert uns Bildungsbürger – einmal mehr brillant und vergnüglich. Doch «Babylon» kommt feiner und leiser daher als ihre früheren Texte.

  • In «Babylon» feiert die sechzigjährige Elisabeth ein Fest, an dem sich ein benachbartes Ehepaar wegen einer Hühnchen-Pastete in die Haare gerät. Der Streit eskaliert und endet in einem Mord.
  • Die Figuren stammen aus dem bildungsbürgerlichen Milieu. Yasmina Reza entblösst ihre Konventionen und lässt ihre Abgründe aufscheinen.
  • Der Roman ist persönlicher und tiefgründiger als Rezas bisherige Werke.
  • Mit «Babylon» erinnert die französische Autorin an die grossen Namen des bürgerlichen Theaters wie Ibsen oder Tschechow.

Eines vorweg: So lustig, wie beispielsweise Yasmina Rezas früheres Theaterstück «Kunst», in dem sich drei Männer darüber streiten, ob eine weisse Leinwand Kunst sei oder nicht, ist «Babylon» nicht. Dazu ist der Plot zu ernst.

Denn hier wird eine Frau erwürgt, in einen Koffer verfrachtet und heimlich aus dem Haus bugsiert. Fast aus dem Haus bugsiert, muss man korrekterweise sagen. Denn die Sache geht schief. Aber jetzt der Reihe nach.

Ein unpassender Besuch

Yasmina Reza

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Legende: IMAGO/SKATA

Yasmina Reza, 1957 geboren, ist Schauspielerin, Regisseurin und Schriftstellerin. Ihr Theaterstück «Kunst» verschaffte ihr den Durchbruch zur weltweit meistgespielten zeitgenössischen Dramatikerin. 2011 wurde ihr Theaterstück «Der Gott des Gemetzels» von Roman Polanski verfilmt.

Im Roman geht es um Elisabeth. Patentingenieurin, verheiratet, Mutter eines erwachsenen Sohnes. Sie ist 60 und hadert mit der Vergänglichkeit. Eltern seien 60, sagt sie. Aber man selber doch nicht.

Um sich aufzuheitern veranstaltet sie ein Frühlingsfest. Es kommen Freunde und Verwandte, Kolleginnen und Kollegen, lauter weltgewandte Menschen, die sich problemlos in einer bildungsbürgerlichen Gesellschaft bewegen können.

Und es kommen die Nachbarn. Ein Ehepaar aus dem fünften Stock, das so gar nicht in diese Gesellschaft passt.

Vom Streit zum Mord

Der Nachbar heisst Jean-Lino. Melancholisch, sensibel und unsicher, ein Verlierer in allen Belangen. Mit ihm raucht Elisabeth gelegentlich eine Zigarette vor dem Haus, mit ihm freundet sie sich an.

Die Nachbarin heisst Lydie. Laut, dominant, schrill und leicht esoterisch angehaucht, eine Hobby-Jazzsängerin der peinlichen Art mit einem heiligen Eifer, was das Thema «Tierhaltung» betrifft.

Vielleicht liegt es daran, dass die beiden die Aussenseiter der Party sind. Vielleicht auch daran, dass Jean-Lino sich überraschend wohl fühlt unter diesen Leuten. Auf alle Fälle kommt es zum Streit zwischen den beiden.

Ein Streit wegen einer Hühnchen-Pastete und über die Frage, ob die Hühnchen vor ihrem Abgang in die Pastete ein glückliches Leben geführt haben. Der Streit eskaliert. Zwei Stunden später, als Elisabeth und ihr Mann bereits im Bett liegen, steht Jean-Lino wieder vor der Tür und sagt, er habe eben seine Frau erwürgt.

Wenn uns die Meisterin der Eskalation entlarvt

Ja. Mitunter ist das auch komisch. Vor allem aber ist es ehrlich. Kaum jemand kann so gekonnt Konventionen demaskieren wie Yasmina Reza,. Kaum jemand reisst gekonnter Masken herunter und Abgründe auf.

Unsere Masken übrigens. Unsere Abgründe. Denn die Figuren in Yasmina Rezas Romanen und Stücken sind ja diejenigen, welche sich für Romane und Stücke interessieren. Also wir. Wir Bildungsbürger.

Mit ihrer Technik des Demaskierens und des Aufreissens von Abgründen ist die französische Erfolgsautorin in bester Gesellschaft und knüpft an die ganz Grossen des bürgerlichen Theaters an.

An Ibsen zum Beispiel. Oder an Tschechow, der seine tragischen Gesellschaftsbetrachtungen stets Komödien genannt hat. Und Yasmina Reza steht auch im Einklang mit ihrem eigenen Werk. Sie ist und bleibt die Meisterin der Eskalation.

100 Prozent Reza

Dennoch unterscheidet sich «Babylon» von Rezas Welterfolg «Der Gott des Gemetzels», der nicht nur in fast jedem deutschsprachigen Theater gespielt, sondern auch von Roman Polanski grossartig verfilmt worden ist. «Babylon» ist feiner, persönlicher, leiser und dadurch tiefer.

Buchhinweis

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Yasmina Reza: «Babylon», aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser, 2017.

Etwa, wenn sich Elisabeth die Frage stellt, wohin ihr Leben gegangen sei. Oder in den langen Passagen im zweiten Teil des Romans, in denen Elisabeth und Jean-Lino im Treppenhaus sitzen, vor ihnen der Koffer mit der toten Lydie, und langsam erkennen, dass Flucht keine Option ist. Weder hier noch sonst im Leben.

Der Roman ist ein «echter Reza» also, eine Weiterentwicklung dessen, was die Autorin immer schon gemacht macht. Und genau darum ist «Babylon» so gut.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 11.08.2017, 16:50 Uhr

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