Am 24. Februar griff Russland die Ukraine an. Wenige Tage später nahm die deutsche Journalistin und Zeichnerin Nora Krug zu zwei Menschen Kontakt auf – einer ukrainischen Journalistin und einem russischen Künstler. Sie bat die beiden um einen wöchentlichen Erfahrungsbericht aus ihrer jeweiligen Perspektive.
Einblicke in den schwierigen Alltag
K, die Ukrainerin, ist eine Journalistin in Kiew, die von der Front berichtet. K ist verheiratet. Ihre beiden Kinder, zwei und sechs Jahre alt, schickt sie zu ihrer Mutter nach Dänemark. Zum Stress im Kriegsalltag kommen nun regelmässige Flüge zu den Kindern.
D ist ein russischer Künstler aus Sankt Petersburg. Auch er hat Kinder, sie sind neun und zehn. Den Untergang der Sowjetunion empfand er damals als Befreiung. Heute hadert er mit dem, was aus seiner Heimat geworden ist. Putin und den Krieg lehnt er ab.
Am liebsten würde D auswandern: Er reist in verschiedene EU-Länder, doch kein Land will seine Familie aufnehmen. Schliesslich bleibt er aus Angst vor einer Rekrutierung im Ausland.
Klare und wirkungsvolle Zeichnungen
Die Aufzeichnungen von K und D stellt Nora Krug einander gegenüber: K links auf gelbem Papier, D rechts auf blauem Papier.
Manchmal interpretiert die Illustratorin den psychischen Zustand von K oder D. Anderswo findet sie Bilder für besonders schmerzhafte Erfahrungen – oder, im Gegenteil, für einen der allerdings eher seltenen schönen Momente. Nie drängen sich die Bilder in den Vordergrund. Denn: Die Erfahrungsberichte sind die Hauptsache.
Spannungsvolle Gegenüberstellung
Die Gegenüberstellung einer ukrainischen und einer russischen Perspektive schafft eine besondere Spannung.
Bei K geht es von Anfang an um Leben und Tod – ob sie von der Front berichtet oder ob sie zuhause aus Angst vor Bomben nicht schläft. Bei D stellt sich nach der anfänglichen Panik eine gewisse Distanz ein. So beklagt er, dass seine Kinder die nächsten Nintendo-Games verpassen werden, weil sich der Videospiel-Hersteller aus Russland zurückzieht.
Paradoxale Auswirkungen
Soweit ist alles wie erwartet. Interessant ist jedoch die Entwicklung von K und D.
K, die Ukrainerin, weiss immer, warum sie was tut: Sie berichtet über den Krieg, sie sorgt sich um ihre Kinder, zunehmend engagiert sie sich für das Wohl der Soldaten und ihrer Mitbürger. Sie stösst immer wieder an ihre Grenzen, aber sie kämpft für klare Ziele. Zeit für Zweifel hat sie kaum.
D hingegen ist eingeklemmt zwischen seinem Wunsch, für seine Familie eine Zukunft ausserhalb Russlands zu finden, und seiner Ohnmacht zuhause. Je länger der Krieg dauert, desto stärker belastet ihn seine Passivität, seine Angst vor Putins Repression und seine Ahnung einer Mitschuld am Krieg.
Er leidet psychisch und mental nicht weniger am Krieg als K, womöglich sogar mehr – wegen dieses lähmenden Ohnmachtgefühls.
Das Überleben hinter der Front
Nora Krugs «Im Krieg» ist kein atemloser Live-Ticker von der Front. Im Gegenteil: Es ist ruhig, leise, intim. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie zwei Betroffene aus den beiden Ländern mit dem Krieg umgehen, aber auch mit ihrer Verantwortung.
Das macht aus dem Buch «Im Krieg», das 2023 für den Pulitzerpreis nominiert wurde, ein eindringliches Dokument aus dem Alltag im Ukraine-Krieg.