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Literatur Lukas Hartmann und sein Nachbar, der Messerstecher

Im neuen Roman «Ein passender Mieter» von Lukas Hartmann bricht unerwartet das Böse in die vermeintlich heile Schweizer Normalität ein. Das Werk beruht teilweise auf dem Fall des so genannten «Messerstechers von Bern», der 2002 die Öffentlichkeit verstörte – auch den Berner Autor.

SRF: Die Geschichte des so genannten «Messerstechers von Bern», der sich dann als ein bekannter Waffenläufer entpuppte, hat die Schweiz 2002 in Atem gehalten. Weshalb veröffentlichen Sie gerade jetzt einen Roman darüber?

Lukas Hartmann: Ich habe damals im gleichen Quartier gelebt wie er. Die ganze Geschichte hat mich jahrelang beschäftigt. Und sie hat mich bis heute nicht losgelassen. Aber mein Roman ist kein Tatsachenbericht, sondern zum grössten Teil eine Fiktionalisierung des Geschehens.

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«Ein passender Mieter» (Radio-Kritik)
02:59 min
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Was ist Ihre stärkste Erinnerung, wenn Sie an das Geschehen von damals zurückdenken?

Dass niemand ahnte, dass sich ein derartiger Gewalttäter in unserer scheinbar so wohl geordneten, heilen Welt einnisten und über lange Zeit tarnen konnte.

Wie gut haben Sie den Täter persönlich gekannt, bevor er gefasst wurde?

Kaum. Ich bin ihm zwar mehrfach begegnet, und ich habe ihn auch jeweils gegrüsst. Aber er hat sich stets wortkarg an mir vorbeigedrückt. Er wollte für sich bleiben und war völlig unauffällig. Niemand im Quartier verdächtigte ihn, dass er derjenige sein könnte, der nachts Frauen anfiel und niederstach.

In Ihrem Roman beschreiben Sie den Schock, der die Festnahme des Täters bei den Menschen im Quartier auslöste. Dieser geht so tief, dass die Beziehung des Ehepaars in Brüche geht, das dem Verbrecher nichtsahnend ein Studio ihres Einfamilienhauses vermietet hat. Wie ist dies zu erklären?

Die Enttarnung des Täters damals war ein Schock. Sie war der Einbruch von etwas völlig Unerwartetem in das Leben und stellte vermeintliche Gewissheiten radikal in Frage.

In meinem Roman wird das fiktionale Ehepaar mit einer derartigen Wucht aus der Normalität hinausgeworfen, dass ein Weg zurück in die alte Routine nicht mehr möglich ist. Die beiden sind nicht fähig, den Schrecken gemeinsam zu verarbeiten. Sie haben all die Jahre aneinander vorbei gelebt. Es kommt zum Bruch. Aber auch zum Neuanfang.

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Lukas Hartmann: «Ein passender Mieter», Diogenes, 2016.

Sie beschreiben im Roman auch, wie das Ehepaar von Selbstvorwürfen geplagt wird, weil es keinen Verdacht geschöpft hat. Ging es Ihnen persönlich damals auch so?

Ja, und nicht nur mir im Quartier. Wir fragten uns: Warum haben wir nichts bemerkt? Haben wir unbewusst weggeschaut, weil wir den Gedanken nicht ertrugen, dass das Böse gewissermassen bei uns im Garten hauste? Wir waren uns ja gewohnt, dass Verbrechen an anderen Orten geschahen, weit weg, aber sicher nicht bei uns.

Diese existenzielle Erschütterung trifft in Ihrem Roman vor allem die Familie, welche dem Verbrecher nichts ahnend ein Zimmer untervermietet hat. Wie sehr beruht diese Erzählung auf wahren Ereignissen?

Gar nicht. Ab der Mitte des Romans, da der Täter gefasst wird, erzähle ich, wie es nun weitergeht mit dem Ehepaar und mit ihrem erwachsenen Sohn. Das sind alles rein fiktionale Figuren und Geschichten.

Ich spiele an ihnen verschiedene Formen des Umgangs mit dem Schrecken durch: Die Eltern kommen nicht darum herum, ihr Leben grundlegend neu zu ordnen. Der Sohn wiederum setzt sich intellektuell mit der Frage nach Gut und Böse auseinander, ohne allerdings schlüssige Antworten zu finden.

Bisweilen korrigieren Sie die tatsächlichen Ereignisse. So begeht der Täter im Roman im Unterschied zum realen Täter von damals im Gefängnis nicht Suizid, sondern er findet dank einem Gefängnisseelsorger Halt im christlichen Glauben.

Der Verbrecher im Roman stürzt sich in den Glauben, weil er glaubt, dies tun zu müssen, um überleben zu können. Diese Form von Glauben, den sich der Mann einredet, kontrastiert mit der differenzierten und komplizierten Gott-Suche des Sohns der Familie, wo auch Zweifel ihren Platz haben.

Was interessiert Sie heute am meisten an dieser Geschichte, die von Ereignissen inspiriert ist, die vierzehn Jahre zurückliegen?

Was damals passiert ist, kommt in Varianten immer wieder vor. Denken Sie an Rupperswil, wo ein unauffälliger und scheinbar gut integrierter Bürger Gräueltaten beging und seine inneren Abgründe auslebte, ohne dass jemand etwas ahnte. Oder jetzt Salez. Unfassbar.

Derartige Fälle werfen die Frage auf, wer wir Menschen eigentlich sind und was uns zuzutrauen ist. Genügt es, die dunklen Seiten, die ja auch zum Mensch-Sein gehören, zu verdrängen, oder müssen wir uns mit ihnen vertieft auseinandersetzen, um ihnen Herr zu werden?

Sendung: Radio SRF 1, 24. August 2016, 14 Uhr.

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