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Schweizer Buchpreis Wenn ein Vulkanausbruch die Chance des Lebens ist

London unter Ascheregen. Ein Vulkanausbruch hat die Stadt in einen Ausnahmezustand versetzt. Der Flugverkehr wurde eingestellt. Doch eine Frau ohne Alter und Namen ist noch rechtzeitig in London angekommen. Für sie wird die Katastrophe in Gertrud Leuteneggers Roman «Panischer Frühling» zur Chance.

Eine Frau – ohne Alter, ohne Namen – gelangt gerade noch rechtzeitig nach London. Kurz darauf wird der Flugverkehr eingestellt: Der Himmel über Grossbritannien ist wieder klar und ohne Lärm. Schuld daran ist ein Vulkan, der ununterbrochen Asche in die Atmosphäre spukt.

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«England war wieder ein Inselreich», notiert die Ich-Erzählerin auf der ersten Seite. Stundenlang wandert sie durch die Weltstadt, nimmt indirekt teil am bunten Leben der Pakistani und Bengalen im East-End, wo sie wohnt, und steht staunend am Ufer der Londoner Wasserader: «Nie hat ein Fluss mich mehr verwirrt, als die Themse», vermerkt sie. Und an einer anderen Stelle hält sie fest: «Wenn die Gezeiten wechselten, entstand ein quirlender Stillstand».

Im Rhythmus des Flusses

Die Themse bildet den roten Faden durch Gertrud Leuteneggers Roman «Panischer Frühling». Als Kapitelüberschrift figuriert der jeweilige Pegelstand. Und das Fliessen, Gurgeln, Wirbeln gibt auch den Ton und den Rhythmus vor für den Erzähl-Fluss.

Mehr noch: Er wird Sinnbild für das, was auch die Essenz dieses Romans ausmacht – die Kostbarkeit von Erinnerungen, die man der Vergänglichkeit abtrotzt. «Irgendwann kommen die Ertrunkenen zurück. Was die Ebbe nimmt, bringt die Flut wieder».

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Schönheit und Schrecken

Auslöser für das Eintauchen in Vergangenes ist eine Begegnung: Eines Tages läuft die Ich-Erzählerin auf ihren Stadt-Wanderungen einem jungen Zeitungsverkäufer über den Weg. Seine fein geschwungene Nase im Profil erinnert sie an ein Renaissance-Bildnis. Doch als er den Kopf dreht, erschrickt sie. Die nun ihr zugewandte Gesichtshälfte präsentiert sich «geschwollen und wie von Fäulnis befallen, als würde sie von innen her von einem Tier zerfressen».

Schönheit und Schrecken: Diese Dualität – wie Ebbe und Flut – beschränkt sich im Roman nicht nur auf das Erscheinen dieses Jonathans. Die Gratwanderung zwischen Verführung und Abstossung durchwebt den ganzen Londoner Alltag. Selbst das titelgebende Wort «panisch» birgt die Doppeldeutigkeit: angsterfüllt und leidenschaftlich.

Die Gespenster der Welt beschwichtigen

Von nun an besucht die Ich-Erzählerin den jungen Zeitungsverkäufer täglich an seinem Verkaufs-Platz auf der London Bridge. Und gegenseitig vertrauen sie sich ihre Erinnerungen an. Sie taucht in das sommerliche Pfarrhaus ihres Onkels ein, das im Kind die Sehnsucht nach Geborgenheit weckt; er nimmt sie mit in die Vergangenheit eines südenglischen Küstenortes, wo die Grossmutter zur wichtigsten Bezugsperson wird.

Buchhinweis

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Gertrud Leutenegger: «Panischer Frühling.» Suhrkamp, 2014.

Eruptiv wie der Aschenregen aus dem Vulkan sprudeln die Worte hervor; wie in einem erotischen Spiel stacheln sie einander mit ihren Geschichten an, suchen Nähe und signalisieren doch plötzlich wieder Distanz. Was wächst, ist die Zuversicht: «Nie wie in solchen Augenblicken werden, wenigstens für kurze Zeit, die Gespenster der Welt beschwichtigt.»

«Leichtsinniges Glück»

Man ahnt beim Lesen, dass sich die Ich-Erzählerin ganz zaghaft in diesen entstellten jungen Mann verliebt. Wie eine Spinne hat er sie mit seinen Geschichten ins Netz gezogen.

Gertrud Leutenegger

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Gertrud Leutenegger – Audios, Lesung, Bilder und Video auf ansichten.ch, das Literaturportal von SRF.

Sie geniesst diese Momente, auch wenn sie weiss, dass es keine gemeinsame Zukunft gibt: «Eine Freude, ohne Fürchten noch Hoffen auf Erwiderung, nichts ist festzuhalten und nichts zu verlieren, nur der zeitlose Augenblick der Freude ist da, zu bejahen mit jedem Atemzug. Welch leichtsinniges Glück! Man muss sehr jung dazu sein, oder schon nahe dem Gegenteil.»

Mit «Panischer Frühling» ist Gertrud Leutenegger ein vielschichtiges, bildstarkes und poetisches Buch gelungen, das man am Schluss bereichert und wehmütig wieder schliesst. Es stimmt: Der Ausnahmezustand war zur Chance geworden. Die Erzählerin hat sie gepackt.

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