Zum Inhalt springen

Header

Inhalt

Musik Erik Satie war zu hip, um anerkannt zu werden

Er bricht mit dem Korsett des Musikbetriebs, begründet moderne Verfahren wie Konzeptmusik und multimediale Kunst und bleibt ein Einzelgänger. Komponisten wie Debussy und Ravel verdanken Erik Satie viel – und doch ist der Franzose eine Fussnote der Musikgeschichte geblieben. Ein Irrtum.

1902: Als das Wort «hip» im Sprachschatz auftaucht, ist Erik Satie 36 Jahre alt und verdient sich den Lebensunterhalt als Klavierspieler in den Kabaretts des Montmartre in Paris. Er selbst wohnt seit 1898 in Arcueil, einer Arbeitervorstadt. Er engagiert sich ehrenamtlich in der Kinder- und Jugendbewegung und ist Mitglied des Gemeinderats – damit riskiert er seine ohnehin unwägbare Stellung in der Musikszene.

Partituren ohne Taktstriche und Anweisungen

Zur Person

Box aufklappen Box zuklappen
Legende: Flickr/Piano Piano!

Der französische Komponist Erik Satie (1866–1925) beeinflusste die Neue Musik und gehört zu den Meistverkannten der Musikgeschichte. Er gilt als Schreck der Grosskritiker und wird noch in den 1980er-Jahren als «komponierender Dilettant» qualifiziert. Ausserhalb der Klavierstücke «Gymnopédies» und «Gnossiennes» ist seine Musik kaum präsent.

Vor seiner künstlerischen Neuorientierung und Politisierung hat Satie einige Erfolge verbuchen können. Er spielt als zweiter Pianist im Kabarett Auberge du Clou auch eigene Musik. Dabei wird Claude Debussy auf die magische Leere seiner Klavierstücke aufmerksam. Kurze Zeit ist Satie Hauskomponist des Ordens De la Rose Croix du Temple et du Graal, einer zeittypischen Künstlervereinigung zwischen Okkultismus, Wagnerismus und Mystik.

Seine Interpreten erwarten statische Intervalle, Partituren ohne Taktstriche und mit aussermusikalischen Spielanweisungen. Satie inszeniert sich in den 1890er-Jahren als Künstler, der «Monsieur le Pauvre» genannt wird. Dank einer kleinen Erbschaft leistet er sich einen Cordanzug in siebenfacher Ausführung.

Gnadenbrot als Unterhaltungsmusiker

Satie erfindet sich immer wieder neu – auch in seiner Musik. Kontinuität und Entwicklung eines Personalstils, wie ihn die konventionelle Musikwissenschaft definiert, gibt es bei ihm nicht. 1976 etwa wird Satie von einem einflussreichen Musikkritiker als «kompositorischer Dilettant» bezeichnet und ein Dissertant in den 2000er-Jahren belächelt, der über Satie promoviert.

Nach der Anti-Konzertmusik der frühen Klavierstücke – wie etwa den bekannten «Gymnopédies» – wendet sich Satie als flinker Unterhaltungsmusiker dem Chanson und dem Theaterstück zu und verdient dort sein Gnadenbrot, obwohl er dieses Genre als «schmutzig» bezeichnet. Inzwischen verkleidet er sich als Beamter mit Melone und beisst sich von 1905 bis 1908 durch ein Studium an der Schola Cantorum in Paris.

Ko-Produktion mit Cocteau und Picasso

Buchhinweis

Box aufklappen Box zuklappen

Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn (Hg.): «Erik Satie. Musik-Konzepte Heft 11», Edition Text+Kritik, aktualisierte Auflage 2015.

Dem Taschenspieler wird dort knochentrockener Kontrapunkt und klassiches Handwerk des Komponierens beigebracht. Satie will seinen Kritikern beweisen, dass er auch das kann, und schliesst das Studium mit Auszeichnung ab. Gleichzeitig radikalisiert sich seine politische Haltung. Er wird in der Vorstadt Mitglied des Comité radical-socialiste, 1914 tritt er der Internationale bei, 1921 der pro-sowjetischen kommunistischen Partei.

Parallel dazu experimentiert er mit eigenen künstlerischen Fragestellungen. Das multimediale Werk «Sports et Divertissements» von 1914 ist Klavierzyklus, Short-Story und Bildergeschichte in einem; mit Texten von Satie und Illustrationen des von Japan inspirierten Modezeichners Charles Martin. Das Ballett «Parade» von 1916 ist eine auf Provokation angelegte Ko-Produktion von Satie, Jean Cocteau und Pablo Picasso.

Von ungebrochener Aktualität

«Socrate» (1917) für Sopran und Orchester bezeichnet Satie als «sinfonisches Drama in drei Teilen mit Stimme» und setzt damit in Gang gesetzte Erwartungen ausser Kraft. Es ist schwebende, neutrale Musik, in der ein fiktiver Dialog zwischen Socrate und Phaidros von einer Frauenstimme gesungen wird. Die immer gleichen Motive sind in kleine lineare Kontrapunkte gekleidet, unabhängig vom gerade gesungenen Text.

Satie wünscht sich die Komposition «rein und weiss wie die Antike», einem im Sonnenlicht gleissenden Tempel ähnlich, dessen Konturen wie hinter einem Schleier verschwimmen. Die Musik spricht von der abwesenden Schönheit und gewiss auch vom Schmerz, der Einzelgänger trifft. Sie ist «weisse Nahrung» für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts – und noch heute von ungebrochener Aktualität.

Meistgelesene Artikel