Fast 40 Kilogramm Kokain wurden vergangenen Samstag im Tessin auf der Autobahn A2 bei Capolago in einem Auto gefunden. 30 Kilogramm waren wenige Tage zuvor in einem anderen Auto in Novazzano entdeckt worden. Ende November waren in der Schweiz zudem sechs Mitglieder einer internationalen Bande festgenommen worden, die Teil eines Netzwerks sein sollen, das über eine Tonne Kokain von Südamerika nach Europa schmuggelte.
Diese Vorfälle rücken die Schweiz erneut ins Zentrum des internationalen Kokainhandels: ein florierendes, kriminelles Geschäft in einem Europa, das zum Hauptabsatzmarkt für die Droge geworden ist. Der gesamte Kontinent, die Schweiz eingeschlossen, wird sprichwörtlich von einer weissen Welle überrollt.
Jedoch: Wie gross der Kokainmarkt genau sei, könne man nur schwer sagen, meint Anna Sergi. Sie ist Professorin an verschiedenen Instituten und Expertin für organisierte Kriminalität und Kokainhandel in den grossen europäischen Häfen. Es gebe aber Schätzungen der EUDA (European Union Drug Agency), die in der Regel zusammen mit denen von Europol verwendet würden. «Da ist von etwa 400 bis 430 Tonnen beschlagnahmtem Kokain die Rede, was ein Rekord ist.» Die Daten umfassten aber nur die Beschlagnahmungen, sprich ausschliesslich das Kokain, das abgefangen werde.
Einschätzungen der Expertin Sergi zum Drogenhandel in Europa:
Laut Sergi ist der Markt äusserst lukrativ. Welche Summen genau im Spiel seien, wisse aber niemand. «Da wir stets von beschlagnahmten Substanzen sprechen, ist die Schätzung unvollständig; daher bleibt ein ganzer Teil des Kokainmarkts fast immer unentdeckt», sagt die Expertin.
Europa werde als wichtigster Referenzmarkt betrachtet, weil es hier immer mehr Konsumierende gebe. Entsprechend hätten die südamerikanischen Länder auch ihre Produktion gesteigert. Und nicht nur das, betont Sergi gegenüber dem Radio und Fernsehen der italienischsprachigen Schweiz (RSI): «Die Logistikkapazitäten haben sich verbessert, und das hat das Angebot in Europa angekurbelt.»
Die Rolle der Schweiz
Die Schweiz sei dem Rest Europas ähnlich. Überall gebe es kriminelle Gruppen mit unterschiedlicher ethnischer Zusammensetzung. «Nur wenige von ihnen organisieren den Handel und haben das nötige Geld, um Bestellungen in Lateinamerika aufzugeben und die grossen Mengen zu finanzieren», sagt die Expertin für organisierte Kriminalität und Kokainhandel.
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Der Vertrieb innerhalb Europas werde hauptsächlich durch lokale, wenn auch transnationale Gruppen organisiert, die als Grosshändler aktiv seien. Die 'Ndrangheta sei hier nach wie vor führend, sowohl im Handel als auch im Vertrieb auf gesamteuropäischer Ebene. «Dann gibt es kleinere Gruppen, die Verbindungen zur Camorra haben, Gruppen türkischer Herkunft oder lokale Banden, die nigerianischer oder einheimischer Schweizer Herkunft sein können», erklärt Sergi.
Die Schweiz habe dabei eine äusserst wichtige logistische Rolle. Da sie mitten in Europa liege, befinde sie sich auf dem Korridor zwischen den grossen Häfen im Norden und denen im Süden.