Vor dem russischen Angriff auf die Ukraine wäre das undenkbar gewesen: Die EU-Staaten rücken in militärischen Belangen näher zusammen, nachdem die Hilfe der USA unsicher geworden ist. Die EU-Kommission stellt dazu einen Fünfjahresplan vor mit dem Ziel, dass EU-Länder Rüstungsgüter vermehrt gemeinsam beschaffen. Ein Blick auf den aktuellen Stand mit EU-Korrespondent Charles Liebherr.
Was beinhaltet dieser Plan?
Die EU-Länder müssen bis in fünf Jahren aus eigener Kraft einen Angriff abwehren können, notfalls auch ohne militärische Unterstützung durch die USA. Das kann in den Augen der EU-Kommission nur gelingen, wenn EU-Länder viel mehr Rüstungsgüter gemeinsam beschaffen. Damit kann wertvolle Zeit gewonnen und Geld gespart werden. Eine Schlüsselrolle soll die Europäische Verteidigungsagentur spielen, die länderübergreifende Projekte koordinieren und gemeinsame Standards definieren soll. Dank mehr Koordination und Zusammenarbeit erhalten auch die europäischen Rüstungskonzerne mehr Klarheit, wo und wie sie ihre Produktionskapazitäten dauerhaft ausweiten können. Das fehlte bisher. Künftig sollen 40 Prozent der Waffen in Europa produziert werden.
Wen sieht die EU als grösste Bedrohung?
Das ist eindeutig Russland. Die europäischen Länder orten die militärische Bedrohung primär an der Ostgrenze Europas zu Russland. Die gesamte Planung ist darauf ausgerichtet. Vier grosse Rüstungsprojekte sind geplant, mit klingenden Namen wie «Eastern Flank Watch», «European Drone Defence Initiative», «European Air Shield» und «Defence Space Shield».
Welche Projekte planen die EU-Staaten konkret?
Das Spektrum der Kooperationsprojekte ist gross und auch nicht abschliessend definiert. Ein Beispiel betrifft Infrastruktur wie Strassen oder Brücken, um Truppen und schweres Gerät schneller verschieben zu können. Das ist heute noch nicht garantiert, etwa bei Brücken zwischen Deutschland und Frankreich über den Rhein. Ein anderes, viel komplexeres Projekt betrifft die Drohnenabwehr, die unterschiedliche Anforderungen an einzelne EU-Länder stellt. Je nach geografischer Lage eines EU-Landes liegt der Fokus mehr auf Boden-, Luft- oder Unterwasser-Abwehrsystemen. Zur Absicherung der östlichen Flanke ist ein Verbund von Verteidigungssystemen nötig.
Kann mitmachen, wer will?
Der Plan, den die EU-Kommission ausgearbeitet hat, ist nicht bindend, denn die militärische Verteidigung bleibt primär eine nationale Kompetenz. Die Aufrüstungsprojekte werden grösstenteils auch aus nationalen Budgets finanziert. Die EU-Kommission will sich darauf beschränken, einen finanziellen und technischen Mehrwert für die Staatengemeinschaft zu schaffen. Sie ist der Auffassung, dass der grösste Mehrwert in der engen Zusammenarbeit und Absprache liegt.
Hat der Plan Chancen am EU-Gipfel?
Grundsätzlich gibt es keine Opposition gegen einen solchen Plan. Er wird nächste Woche am EU-Gipfel eine breite politische Zustimmung erhalten. Der Auftrag für einen solchen Plan an die EU ging von den EU-Ländern aus. Das zeigt, dass ein Sinneswandel in Verteidigungsfragen stattfindet. Den Plan gibt es allerdings nur auf Papier. Jedes Land wird ihn autonom umsetzen und selber finanzieren müssen. Keinen Plan gibt es für den Fall, dass einzelne Länder vom Kooperationsplan abweichen und wieder im Alleingang Waffen einkaufen wollen. Der Plan setzt einzig auf die Überzeugung, dass Zusammenarbeit in Europa besser ist als 27 nationale Alleingänge.