Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen sind im Ukraine-Krieg bisher knapp vier Millionen Menschen vor den Kämpfen aus dem Land geflohen - darunter fast zwei Millionen Kinder. Viele Organisationen sind alarmiert: Die Gefahr von Kinderhandel sei akut gestiegen. Saskia Kobelt berät die internationale Programme des Kinderhilfswerks Unicef und liefert Antworten über die Gefahr von Kinderhandel im Ukraine-Krieg.
SRF News: Warum macht der aktuelle Krieg die Kinder so verletzlich für Kinderhandel?
Saskia Kobelt: Im Krieg sind Kinder einem erhöhten Risiko von Kinderhandel ausgesetzt, denn es fehlt ihnen an wichtigen Schutzstrukturen. Flucht ist daher eine reale Bedrohung: Kinder werden von Eltern getrennt und sind schutzlos. Angesichts des riesigen Ausmasses von 1.5 Millionen Kindern, die aus der Ukraine geflohen sind und den 2.5 Millionen Kindern, die durch Gewalt im eigenen Land vertrieben werden, ist diese Situation mit nichts Ähnlichem zu vergleichen und entsprechend extrem. Das nutzen Kinderhändler aus.
Viele Freiwillige wollen den Geflüchteten an den Aussengrenzen der Ukraine helfen. Warum besteht dort dennoch ein Problem der Schutzlosigkeit?
Der Krieg hat viele Organisationen und Freiwillige an die Grenze gebracht, was sehr gut und dringend nötig ist. Doch der Ansturm insbesondere von nicht-registrierten freiwilligen Helfern bietet illegalen Gruppen wie Menschenhändlern Platz, die chaotische Situation und die Sicherheitslücken schamlos auszunützen. Das Problem ist also, dass Unicef keinen Überblick hat, wer sich diesen Frauen und Kinder anbietet.
Menschenhändler nutzen die chaotische Situation und Sicherheitslücken an den Grenzen schamlos aus.
Unicef hat an den Grenzen Anlaufstellen aufgestellt. Wie helfen diese, die Kinder konkret vor Menschenhandel schützen?
In Zusammenarbeit mit dem UNO-Flüchtlingshilfswerk hat Unicef sogenannte «blue dots» an Schlüsselstellen aufgestellt: Dies sind gut eingerichtete Anlaufstellen, bei denen es spezifisch darum geht, Kindern wichtige Informationen zu geben und vor allem unbegleitete Kinder wieder mit ihren Eltern zu vereinen. Dieser direkte Kontakt vor Ort ist sehr entscheidend, um Schutz zu bieten.
Warum sind viele dieser Kinder zurzeit allein auf der Flucht?
Man hört viele herzzerreissende Geschichten über Kinder, die allein flüchten – viele gegen ihren Willen, da sie auf der Flucht von ihren Eltern getrennt wurden oder sie verloren haben. Wir wissen von ungefähr 500 Kindern, die allein an der Grenze zu Rumänien angekommen sind. Aufgrund des Ausmasses des Ukraine-Kriegs gibt es allerdings keine nationalen Registrierungssysteme, daher haben wir keine systematischen Daten über die Anzahl der Kinder und wohin sie fliehen. Klar ist: Sobald Kinder allein auf die Flucht gehen, ist bei einem Grenzübertritt eine grössere Gefahr von Ausbeutung da.
Kinderhandel, Verschleppung, Ausbeutung, illegale Adoption: Wie gehen diese Netzwerke vor?
Konkret ist für Kinder sexuelle Ausbeutung die grösste Gefahr im Ukraine-Krieg. Aber auch Entführungen, Kinderarbeit und Organhandel werden zu realen Bedrohungen – hier agieren globale, gut etablierte Netzwerke, die im Hintergrund arbeiten.
Sexuelle Ausbeutung stellt für Kinder im Ukraine-Krieg die grösste Gefahr dar.
Vor allem der Kinderhandel ist gravierend. Den Kindern wird die Identität genommen und sie gehen ohne Namen, ohne Geschichte und ohne Pass über die Grenzen. Das nutzten kriminelle Netzwerke aus – die verkaufen Kinder weiter und diese landen dann irgendwo.
Das Gespräch führte Salvador Atasoy.