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Russische Gräueltaten nicht nur in Butscha
Aus Echo der Zeit vom 06.04.2022. Bild: SRF (Archivbild)
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Krieg in der Ukraine Kriegsreporter in der Ostukraine: «Butscha ist kein Einzelfall»

Die Gräueltaten von Butscha sind für viele eine Zäsur: Es wurde schmerzhaft deutlich, was in diesem Krieg passiert, wie gross das Leid der Zivilbevölkerung ist. Der Journalist Christoph Reuter war vor wenigen Tagen in der Kleinstadt Trostjanez, nicht weit entfernt von Charkiw im Osten der Ukraine. Trostjanez wurde sehr früh im Krieg von russischen Truppen besetzt, konnte dann aber letzte Woche von ukrainischen Streitkräften befreit werden. Reuter und seine Kollegen haben die Stadt kurz nach der Befreiung besucht – auch dort zeigte sich ein ähnliches Muster von willkürlichem Morden und Plündern wie in Butscha.

Christoph Reuter

Christoph Reuter

Journalist

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Der deutsche Journalist und Kriegsberichterstatter Christoph Reuter berichtet als Reporter für das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel».

SRF News: Was haben Sie in Trostjanez angetroffen?

Christoph Reuter: Das Faszinierende an Trostjanez war, dass wir zu einem Zeitpunkt kamen, als sich die Bewohner selbst erst wieder aus den Häusern trauten. Es gab ja kein Festnetz, kein Mobiltelefon – sie wussten also gar nicht, ob die Russen wirklich weg waren. Wir sahen den Zustand, den die russische Armee hinterlassen hat, als sie abgezogen ist. In der Nähe des Polizeipräsidiums entdeckten wir die Leiche eines Zivilisten, die auch noch geschändet wurde. Jemand hatte einen Haufen Kot auf ihr hinterlassen.

Die Läden waren aufgeschossen und geplündert worden, die Kassen gesprengt. Zum Teil haben wir die geplünderten Güter in den Armeequartieren wiedergefunden. Lebensmittelverpackungen, Kinderkleidung, mit denen die Soldaten ihre Unterstände ausgepolstert hatten, damit sie es warm hatten. Wir haben Belege gefunden, wie sich eine russische Armeeeinheit verhält, wenn sie einen Monat lang eine Stadt besetzt hält, deren Bewohner sie allesamt ablehnen.

Haben Ihnen die Menschen dort erzählt, wie sie die Zeit der Besatzung erlebt haben?

Ja, sehr detailliert. Am Anfang kamen die Russen wie ein versprengte Streitmacht, die nicht viel mit den Bewohnern zu tun hatte. Aber nach drei Tagen gingen ihnen die Lebensmittel aus. Dann wurden sie von der ukrainischen Armee beschossen und vermuteten – zu Recht –, dass die Lokalbevölkerung die Koordinaten der Panzerstellungen weitergibt. Und der Albtraum begann. Es wurde eine Ausgangssperre ab 15 Uhr verhängt. Wer danach noch draussen war, wurde erschossen. Wir wissen nicht, wie viele Menschen genau erschossen wurden. Aber wir haben an mehreren Stellen hinter den Häusern Gräber in den Gärten gesehen, weil es den meisten Bewohnern verboten war, zum Friedhof zu gehen. Die Russen hatten diesen vermint.

Innerhalb von vier Wochen wurden die Russen aus einer Streitmacht, die wenig mit den Menschen zu haben wollte, zu einer mörderischen Soldateska, die jeden erschiesst, der ihnen zu nahe kommt.

Das Frappierende an den Erzählungen war, dass die Russen nicht mit einem festen Plan gekommen waren. Sie wussten offenbar überhaupt nicht, was sie in Trostjanez wollten. Innerhalb von vier Wochen wurden sie aus einer Streitmacht, die wenig mit dem Menschen zu haben wollte, zu einer mörderischen Soldateska, die jeden erschiesst, der ihnen zu nahe kommt.

Ukrainische Soldaten vor einem Grab, in dem laut Anwohnern ein von Russen getöteter Bewohner Butschas liegt.
Legende: Wie hier in Butscha haben Menschen ihre Angehörigen auch in Trostjanez notdürftig begraben. Reuters

Haben die Einwohner von Trostjanez auch mit russischen Soldaten gesprochen? Wussten sie, was sie tun, handelten sie auf Befehl?

Nein, es gab keinen Befehl, so zu handeln. Es gab aber auch keinen Befehl, nicht so zu handeln. Es war Chaos und völlige Willkür. Sie konnten tun und lassen, was sie wollten. Die Russen sprachen nur mit wenigen Menschen vor Ort. Von einigen Dorfbewohnern wollten sie Mitte März wissen, ob ihre Truppen schon Kiew oder Charkiw erobert hätten, ob Selenski schon tot sei. Es wirkt so, als ob diese russischen Truppen, die eine wilde Mischung aus Söldnern aus Südossetien oder aus dem ärmsten Winkel Sibiriens waren, selbst nicht wussten, was sie dort machen.

Das heisst also: Angesichts der Bilder, die sie uns beschreiben, ist Butscha kein Einzelfall.

Nein. Butscha ist, glaube ich, ein extremerer Fall als andere, weil es dort sehr heftige Kämpfe gab. Die Ukrainer haben alles versucht, um die russischen Truppen davon abzuhalten, weiter nach Kiew vorzustossen. Dort sind die Angreifer noch viel grausamer vorgegangen als in Trostjanez. Es lagen ja Dutzende Leichen am Strassenrand. Das Muster, das System, dass niemand diese Soldaten von Plünderungen, Tötungen und der Folter von Zivilisten abhält – das ist in Butscha genauso zu sehen wie in Trostjanez. Und wahrscheinlich überall, wo man hinkommt, wenn sich die russischen Truppen zurückgezogen haben.

Das Gespräch führte Simone Hulliger.

Echo der Zeit, 06.04.2022, 18 Uhr;

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