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Strafgerichtshof ICC im Visier «Unverfrorener Bruch des Völkerrechts und Angriff auf die Justiz»

Die USA haben 2025 auch den Internationalen Strafgerichtshof ICC ins Visier genommen. Einige Richterinnen und Staatsanwälte sind auf Sanktionslisten gelandet. Jüngstes Beispiel ist ein Richter aus Georgien. Er verliert den Zugang zu all seinen Vermögenswerten in den USA samt US-Kreditkarten und Google-Konto. Die Trump-Regierung reagiert damit auf den Haftbefehl des ICC für Israels Premier Netanjahu. Eine derart offene Behinderung der Justiz sei neu, sagt Völkerrechtsprofessorin Helen Keller.

Helen Keller

Professorin für Völkerrecht und ehemalige Richterin am EGM

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Keller war vollamtliche Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und ist nun Professorin für Völkerrecht an der Universität Zürich. Von 2006 bis 2011 war sie Mitglied im Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen.

SRF News: Was lösen die Sanktionen bei Ihnen aus?

Helen Keller: Die Tendenz, dass Regierungen Richterinnen und Richter einschüchtern wollen, gibt es schon länger. Als ehemalige Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte war ich selbst betroffen. Das trifft einen persönlich, denn man will gute Arbeit leisten. Die Sanktionen oder angedrohten Strafverfahren lösen eine ganze Maschinerie aus. Jedes Gericht muss mutmassliche Verstösse abklären, was die Justiz enorm behindert. Richterinnen und Richter werden oft von Fällen abgezogen. Nicht alle halten dem Druck stand.

Die Israel-Fälle scheinen sehr heikel zu sein ...

Es ist ein Fundamentalangriff auf die Unabhängigkeit des Gerichts und absolut völkerrechtswidrig. Die Richterinnen und Richter geniessen Immunität und dürfen nicht einfach sanktioniert werden. Schon gar nicht mit der Begründung, dass sie an einem unliebsamen Entscheid beteiligt waren. Es ist ihre Aufgabe, Recht zu sprechen.

Es ist praktisch unmöglich, Richterinnen und Richter zu schützen, wenn sie von einer grösseren Anzahl von Staaten sanktioniert werden.

Wie können Richterinnen und Richter geschützt werden?

Das ist eine schwierige Frage. Die Justiz basiert immer auf dem Gedanken, dass die Spielregeln des Rechts und der Verfahren eingehalten werden. Werden die Rechtsstaatlichkeit und das Völkerrecht so unverfroren durchbrochen, ist man immer auf der hilfloseren Seite und kämpft wie Don Quijote gegen Windmühlen. Deshalb ist es praktisch unmöglich, Richterinnen und Richter zu schützen, wenn sie von einer grösseren Anzahl von Staaten sanktioniert werden.

Ist die Entwicklung mit direkten Sanktionen neu?

Das gab es schon früher. Neu ist aber die Art und Weise, wie die Trump-Administration das jetzt tut. Sie tut das nicht nur gegenüber internationalen Richtern, sondern immer häufiger auch gegenüber nationalen Richtern. Ein prominentes Beispiel ist ein Richter aus Brasilien, der federführend war im Strafverfahren gegen den ehemaligen Präsidenten und Trump-Freund Javier Bolsonaro.

Gibt es solche Tendenzen auch in Europa?

Am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gab es immer wieder Versuche, gewisse Richterinnen und Richter einzuschüchtern. Nicht so sehr mit Sanktionsmassnahmen, aber mit Strafverfahren. Da wird zu Hause plötzlich eine Strafanzeige eingereicht wegen Steuerhinterziehung, und dann steht man da und muss sich zuerst einmal rechtfertigen. Oder man wird mit einer Strafanzeige wegen Amtsmissbrauchs konfrontiert.

Den Vorwurf, dass Gerichte politisch entscheiden, muss man genauer anschauen. Ich glaube nicht, dass er wissenschaftlich haltbar ist.

Es gibt zunehmend Kritik, dass Gerichte politisch agieren und Urteile zunehmend politisch gelesen würden. Wie soll die Justiz damit umgehen?

Es ist gar nicht so einfach, zu definieren, was ein politisches Urteil überhaupt ist. Häufig fällt dieser Vorwurf von Leuten, denen ein Urteil nicht passt. Ich persönlich bin überzeugt, dass sich die Gerichte hüten, politisch zu urteilen. Denn sie würden so sehr angreifbar und ihre Legitimation gefährden. Den Vorwurf, dass Gerichte politisch entscheiden, muss man genauer anschauen. Ich glaube nicht, dass er wissenschaftlich haltbar ist.

Das Gespräch führte Sandro della Torre.

SRF 4 News, 29.12.2025, 7:46 Uhr ; 

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