Bei den Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew in Istanbul hat die Ukraine angeboten, künftig neutral zu sein und darauf zu verzichten, die Gebiete im Osten und die Krim militärisch zurückzuerobern.
Russland seinerseits hat angekündigt, seine militärischen Aktivitäten zu reduzieren, zum Beispiel bei Kiew. SRF-Korrespondent David Nauer befindet sich im Westen der Ukraine. Er ist äusserst skeptisch, was die russischen Ankündigungen angeht.
SRF News: Wie sind die Ergebnisse der Gespräche von Istanbul einzuordnen?
David Nauer: Grundsätzlich sind es positive Nachrichten. Erstmals seit Kriegsausbruch am 24. Februar hat man das Gefühl, dass etwas in Bewegung kommt. Die Ukraine bietet an, den Russen weit entgegenzukommen – beim Nato-Beitritt oder bei den russisch besetzten Gebieten Krim und Donbass. Man spürt von den Ukrainern einen Willen zur Einigung.
Die russische Armee steckt vor Kiew fest.
Die Russen ihrerseits kündigen erstmals eine Deeskalation an, indem sie Kiew nicht mehr länger angreifen wollen. Das ist allerdings ein erzwungenes Zugeständnis, denn die russische Armee steckt vor Kiew fest.
Wie fallen die Reaktionen in der Ukraine aus?
Persönlich habe ich hier im Westen der Ukraine noch nichts vom angekündigten russischen Willen zur Deeskalation gespürt – falls es diesen Willen überhaupt gibt. Alleine heute erlebte ich dreimal einen Luftalarm; die Russen schiessen also offenbar immer noch Raketen auf die Westukraine ab.
Ukrainische Intellektuelle sagen, den Russen jetzt entgegenzukommen, sei ein grosser Fehler – der Kreml würde bloss seine Kräfte sammeln und die Ukraine bald erneut angreifen.
Ich habe heute mit ukrainischen Intellektuellen gesprochen und sie sagen, es bringe nichts, den Russen jetzt entgegenzukommen, das sei ein grosser Fehler. Der Kreml würde in diesem Fall bloss die Zeit nutzen, um seine Kräfte zu sammeln und in ein paar Monaten oder Jahren die Ukraine erneut anzugreifen.
Sind sich die Delegationen in Istanbul auch in den grossen Fragen entgegengekommen, etwa, was eine Demilitarisierung der Ukraine angeht?
Nein – wie auch bei den anderen grossen Fragen nicht. Es bleiben viel mehr Fragen ungeklärt als geklärt. Das hat auch damit zu tun, dass die Russen bisher beim Kern ihrer Forderungen keinen Millimeter abgerückt sind. Aus Moskau hiess es heute erneut, die Ukraine müsse «demilitarisiert und entnazifiziert» werden, was immer letzteres bedeuten soll.
Die Russen haben keineswegs vor, die eroberten Gebiete wieder herzugeben – das ist nicht nur völkerrechtswidrig, die Ukraine würde faktisch kapitulieren, wenn sie dies akzeptieren würde.
Darüber hinaus haben die Russen keineswegs vor, die von ihnen in den letzten Wochen eroberten Gebiete wieder herzugeben. Sie wollen sie offensichtlich besetzt halten. Das ist nicht nur völkerrechtswidrig, die Ukraine würde faktisch kapitulieren, wenn sie dies akzeptieren würde. Für eine Lösung der vielen ungeklärten Fragen müsste Moskau wirkliche Schritte der Deeskalation unternehmen und auf Forderungen verzichten, die für die Ukraine schlicht nicht hinnehmbar sind. Bislang sehe ich diesen Willen in Moskau nicht.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.