Sie haben Splitterverletzungen, Beckenbrüche und andere Knochenbrüche: die ersten 7 Kinder aus dem Gazastreifen, die heute mit ihren Angehörigen in der Schweiz landen. «Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit», heisst es in der Bundesverfassung. Dem dürfte kaum jemand widersprechen. Trotzdem stiess und stösst die geplante Aufnahme von insgesamt 20 Kindern mitsamt Angehörigen auf Kritik aus dem rechten Lager und aus der Deutschschweiz. Weshalb?
Die Kritikerinnen und Kritiker befürchten, dass sich unter den Angehörigen Hamas-Sympathisanten befinden könnten. Und sie argumentieren, dass die Asylstrukturen bereits überlastet seien.
Bedenken aus SVP-geführten Gesundheitsdirektionen
Ohne die hohe Belastung der Kantone kleinreden zu wollen: Die Aufnahme von ein oder zwei Kindern mit je vier Angehörigen dürfte für grosse Kantone wie Bern, Zürich oder Aargau möglich gewesen sein. Die ablehnenden Signale aus genau diesen Kantonen dürfte auch politisch motiviert sein: Die Gesundheitsdirektionen dieser Kantone sind SVP-geführt.
Sicherheitsbedenken sind legitim: Das jahrelange Terrorregime der Hamas und der Krieg der letzten zwei Jahre dürfte viele Menschen radikalisiert und brutalisiert haben. Garantien gibt es nicht. Doch neben den Überprüfungen durch die Schweiz gibt es zumindest eine zusätzliche Sicherheit: Die Betroffenen werden über israelisches Territorium nach Jordanien gebracht und von Israel sowie Jordanien überprüft. Es ist schwer vorstellbar, dass Israel Menschen, die es als Sicherheitsrisiko beurteilt, die Durchfahrt erlaubt hätte.
Schweizer Palästina-Politik: Vorsichtig und langsam
Die Diskussionen sind ein Spiegel der bisherigen Schweizer Palästina-Politik: Die Schweiz handelt spät, zurückhaltend oder gar nicht. Palästina anerkennt die Schweiz weiterhin nicht als Staat. In den vergangenen Jahren taten sich Bundesrat und Aussendepartement schwer, in der UNO-Generalversammlung eine nachvollziehbare Haltung zu beziehen zum Gaza-Krieg.
Spät handelt die Schweiz jetzt auch im Fall der verletzten Kinder: Italien zum Beispiel nahm bereits im Juni 17 Kinder auf – im gesamten EU-Raum sind es inzwischen rund 300 Personen. Selbst der aus den Palästina-Diskussionen bekannte «Gaza-Graben» zeigt sich bei der humanitären Aktion: Aus der Westschweiz kamen deutlich weniger Bedenken als aus der Deutschschweiz. Allerdings handelt es sich nun bei der ersten Aufnahmeaktion bei vier von sieben beteiligten Kantonen um Deutschschweizer Kantone – mit den Kantonen Aargau, Bern und Zürich als grosse Abwesende.
Die Aufnahme – eine lange Tradition
Dass die Schweiz Kriegsverletzte aufnimmt, hat Tradition: Im Ersten Weltkrieg versorgte sie Tausende verletzte Soldaten. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs reisten Zehntausende kriegsversehrte Kinder zur Erholung in die Schweiz. Und zuletzt nahm die Schweiz auch verletzte Kinder aus der Ukraine auf.
Bei allen Bedenken und Ängsten, bei aller politischer Vorsicht und Zurückhaltung: Diese Aufnahme von verletzten Kindern aus Gaza fügt sich ein in die humanitäre Tradition der Schweiz. Auch wenn sie spät kommt. Und auch wenn sie zurzeit noch bescheiden ist. Der Staatssekretär für Migration, Vincenzo Mascioli, sprach von einem Tropfen auf den heissen Stein. Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO warten noch rund 4000 verletzte Kinder auf eine Evakuation aus der Hölle von Gaza.