SRF News: Welche Bilanz zieht die Akademie der Medizinischen Wissenschaften ein Jahr nach Erlass der neuen Richtlinien zu medizinischen Zwangsmassnahmen?
Christian Kind: Die Richtlinien haben in den verschiedensten Kreisen ein sehr starkes Echo gefunden, beschleunigten die Diskussion und verhalfen dem Thema Zwangsmassnahmen zu mehr Präsenz. Es wird zum Beispiel in der Psychiatrie, im Langzeitpflegebereich oder in der Gefängnismedizin aktiv bearbeitet.
In einigen Bereichen, wie zum Beispiel auf Demenzabteilungen, wird mit baulichen Massnahmen versucht, Spannungen zu lösen und Aggressionen vorzubeugen. Ist das der Weg?
Das ist sicher eine gute Methode, damit das Eingeschlossen-Sein weniger als Zwang erlebt wird. Das Wichtigste, um eine Atmosphäre ohne Zwang zu erreichen, ist jedoch, dass man gut geschultes und empathisch kompetentes Personal hat. Mit dem richtigen Umgang liessen sich medizinische Zwangsmassnahmen, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen in vielen Fällen vermeiden.
Das wichtigste ist gut geschultes Personal.
Gerade dieser Bereich hat aber offenbar zu wenige Fachkräfte. Kann man daraus schliessen, dass hier noch Sensibilisierung nötig ist?
Es besteht tatsächlich noch Aufholbedarf, bis für die vielen Patienten mit Demenz kompetente Betreuung möglich ist. Die laufende Diskussion des Themas und die Demenzstrategie des Bundes lassen jedoch hoffen, dass immer mehr Menschen auch für diese Pflege gewonnen werden können und dass man auch mehr Ressourcen in deren Ausbildung sowie Anstellung stecken könnte.
Das Gespräch führte Christine Wanner.
Richtlinien zu Zwangsmassnahmen in der Medizin
Unter einer medizinischen Zwangsmassnahme versteht man die Durchführung einer medizinischen Massnahme gegen den selbstbestimmten Willen oder gegen den Widerstand eines Patienten. Die Schweizerische Akademie für Medizinische Wissenschaften verlangt in ihren Richtlinien, dass – wo immer möglich – Zwangsmassnahmen zu vermeiden sind. Wo es sie braucht, sollen sie möglichst kurz und schonend sein und in Absprache mit den Betroffenen und Angehörigen passieren. Es braucht eine ärztliche Anordnung, und alle Massnahmen müssen dokumentiert werden. «Die Verfügbarkeit ärztlicher und pflegerischer Fachpersonen mit genügender Erfahrung und entsprechender Weiterbildung (z. B. Deeskalations- und Festhaltetechniken, Aggressionsmanagement) ist zwingend; ebenso müssen räumliche Voraussetzungen vorhanden sein, die eine Blossstellung oder gar Demütigung der betroffenen Person vermeiden.» (Zit. aus den Richtlinien) |