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Digitale Barrierefreiheit Schweizer Gemeinde-Websites sind voller Hürden

Für Menschen mit Behinderung sind Gemeinde-Websites oft kaum zu bedienen. Ein Test von 70 Internetauftritten zeigt: Keiner ist vollständig barrierefrei.

Seit einer Gehirnentzündung im Kindesalter hat Brigitte Stahel eine Beeinträchtigung. Das Lesen von langen Texten fällt ihr schwer. Die Internetseite der Stadt Winterthur macht es ihr nicht einfach: Lange Texte, eine unübersichtliche Struktur und die fehlende Abgrenzung von Elementen erschweren das Zurechtfinden auf der Seite.

Keine Website barrierefrei

Es gibt weitere Hürden: Wichtige Hilfsmittel wie Screenreader, die blinden Menschen Geschriebenes vorlesen, oder die Tastaturbedienung, auf die Menschen mit Mobilitätseinschränkung angewiesen sind, funktionieren gar nicht oder nur beschränkt.

Personen sitzen an einem Schreibtisch in einem Grossraumbüro. Zwei von ihnen, ein Mann und eine Frau, unterhalten sich .
Legende: Fachleute der Stiftung «Zugang für alle» haben im Auftrag von CORRECTIV.Schweiz Websites von Städten und Gemeinden untersucht. SRF

Solche Probleme bestehen in diversen Gemeinden. Gemeinsam mit der Stiftung «Zugang für alle», der Schweizer Zertifizierungsstelle für digitale Barrierefreiheit, hat das Recherchezentrum CORRECTIV.Schweiz die Websites von 70 Schweizer Gemeinden und Städten untersucht. Das Ergebnis: Keine einzige Website ist vollständig barrierefrei. 20 davon werden nur als teilweise barrierefrei eingestuft und 50 Websites als nicht barrierefrei.

Fünf Kriterien wurden im Rahmen der Recherche untersucht: Screenreader, Tastaturbedienbarkeit, Farbe und Kontrast, Untertitel und Audiodeskription sowie Leichte Sprache. In der Schweiz besteht eine rechtliche Verpflichtung zur Beseitigung solcher Hürden.

Untersuchte Kriterien

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Folgende Kriterien wurden im Rahmen der Recherche überprüft:

Screenreader

Screenreader sind ein essenzielles Hilfsmittel für Blinde, Menschen mit Seh- und Hörbehinderung oder für Personen mit Leseschwierigkeiten. Sie lesen auf dem Bildschirm sichtbare Inhalte stellvertretend für den Benutzer oder die Benutzerin und geben die Informationen per Sprachfunktion aus oder wandeln sie in Brailleschrift um, die der Benutzer wiederum über eine Braillezeile lesen kann. Sie geben zudem an, ob es sich um eine Überschrift, ein Bild, einen Link oder eine Liste handelt.

Tastaturbedienbarkeit

Personen mit motorischen Einschränkungen der oberen Gliedmassen, zum Beispiel aufgrund von körperlichen Behinderungen, Zittern oder einem Armbruch, sind meistens nicht in der Lage, eine Maus zu bedienen. Computer können sie mithilfe der Tastatur bedienen. Mit der Tab-Taste können sie Webseiten erschliessen, indem sie von Element zu Element springen. Dabei ist es besonders wichtig, dass eine Webseite einen sogenannten Fokusindikator hat, der dem oder der Nutzenden anzeigt, auf welchem Element (zum Beispiel Grafik oder Menüpunkt) er oder sie sich gerade befindet.

Farbe und Kontrast

Einzelne Elemente auf einer Webseite, wie zum Beispiel Überschriften oder Links, müssen sich klar voneinander abheben. Nur dann sind Menschen mit Sehschwächen, Farbfehlsichtigkeit, ältere Menschen und auch Personen mit Lernschwäche in der Lage, Informationen zu lesen. Ist ein entsprechender Kontrast nicht gegeben, können Betroffene den Text nur mit grösster Anstrengung oder gar nicht lesen.

Untertitel / Audiodeskription

Damit Menschen mit Hörbehinderungen Inhalte, die via Audio oder Video vermittelt werden, verstehen können, sind sie auf Untertitel angewiesen. Für Menschen mit Sehbehinderungen braucht es wiederum bei textbasierten Videoelementen, wie zum Beispiel der Beschriftung einer sprechenden Person, Audiodeskriptionen.

Leichte Sprache

Laut Pro Infirmis fällt 800'000 Menschen in der Schweiz das Lesen schwer; rund 85'000 leben hierzulande laut Schätzungen mit kognitiven Einschränkungen. Damit auch diese Menschen sich selbstständig informieren können, gibt es ein Hilfsmittel: die Leichte Sprache. Sie bricht komplexe Satzstellungen und Inhalte auf das Wesentliche herunter. Auch gehörlose Personen und Nicht-Muttersprachler profitieren von der Verwendung von Leichter Sprache.

Das Gesetz verlangt Barrierefreiheit

Bereits 2019 unterschrieb der Gemeinde- und Städteverband den entsprechenden Rahmenvertrag. Zudem verpflichtet das Behindertengleichstellungsgesetz das Gemeinwesen, Massnahmen zu ergreifen, um Benachteiligungen zu verhindern, zu verringern oder zu beseitigen. 2014 wurde Menschen mit Behinderung durch die Ratifizierung der UNO-Behindertenrechtskonvention ein gleichberechtigter Zugang zu Informationen und Dienstleistungen für die Öffentlichkeit zugesichert.

Nahaufnahme eines blauen Screenreaders, auf dem zei Hände liegen.
Legende: Ein Screenreader gibt Inhalte per Sprachfunktion aus oder wandelt sie in Brailleschrift um. SRF

Claudia Kratochvil, Direktorin des Schweizerischen Gemeindeverbands, bedauert, dass die von CORRECTIV.Schweiz untersuchten Websites nicht den Standards entsprechen. Für die Gemeinden sei die Digitalisierung ein enormes Unterfangen: «Es geht auch um die Bereitstellung von digitalen Dienstleistungen, die selbstverständlich barrierefrei sein sollten.» Übersetzungen in Leichte Sprache müssten die meisten Gemeinden extern einkaufen. Da die Inhalte auf der Website regelmässig aktualisiert würden, sei es für viele schwierig bis unmöglich, alle Texte in Leichter Sprache zur Verfügung zu stellen.

Wer steht hinter der Recherche?

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CORRECTIV.Schweiz ist ein gemeinnütziges Recherchezentrum mit Sitz in Bern. Es recherchiert gemeinsam mit der Bevölkerung und deckt alleine oder gemeinsam mit Partnerinnen und Partnern gesellschaftliche Missstände auf. Dabei werden innovative Wege und Methoden genutzt, wie etwa der selbst entwickelte CrowdNewsroom.

Die Stiftung «Zugang für alle» ist seit 25 Jahren das Schweizer Kompetenzzentrum und die unabhängige Zertifizierungsstelle für barrierefreie Websites und mobile Apps in der Schweiz. Gemeinsam mit den Expertinnen und Experten der Stiftung hat CORRECTIV.Schweiz die Kriterien sowie das Punktesystem zur Überprüfung der Gemeinde-Websites ausgearbeitet. Jedes Kriterium wurde auf allen siebzig Websites im Juli und August 2025 von einer dafür zuständigen Fachperson durchleuchtet.

Die Redaktion von CORRECTIV.Schweiz hat die Websites der Gemeinden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Weil aus den grösseren Kantonen jeweils mehrere Websites ausgewählt wurden, hat die Redaktion hier lediglich auf die Einwohnerzahl der jeweiligen Gemeinde geachtet. Konkret: CORRECTIV.Schweiz hat versucht, jeweils die Website der grössten, einer mittelgrossen und einer kleinen Gemeinde auszuwählen.

Auch Winterthur gibt auf Anfrage an, von den Hürden zu wissen. Stadtpräsident Michael Künzle kündigt für 2026 einen neuen Internetauftritt an: «Um eine Barrierefreiheit hinzubekommen, müssen wir das Ganze von Grund auf neu aufbauen. Daran arbeiten wir jetzt.»

Monika Litscher, Direktorin des Schweizerischen Städteverbands, betont, dass ihre Mitglieder die Anliegen und Ziele des Behindertengleichstellungsgesetzes unterstützen. Der Verband mache sich für die Umsetzung digitaler Barrierefreiheit stark, indem er seine Mitglieder vernetze und Austausch fördere.

Frau sitzt in einem Zimmer vor einem Computerbildschirm, auf dem der Internetauftritt der Stadt Winterthur zu sehen ist.
Legende: Brigitte Stahel wäre auf Leichte Sprache angewiesen. SRF

Für Betroffene wie Brigitte Stahel wären zugängliche Informationen in zentralen Lebensbereichen ein Fortschritt. Sie würde sich wünschen, selbstständiger im Internet unterwegs zu sein: «Es wird immer Sachen geben, die für mich schwierig sind. Aber vielleicht könnte man sie ein bisschen weniger schwierig machen.» 

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Mehr zum Thema sehen Sie heute Abend in «10 vor 10» um 21.50 Uhr auf SRF1.

10vor10, 27.10.2025, 21:50 Uhr; sten

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