Schreibt eine Frau über Gewalt, wird sie oft gehört. Schreibt sie über Gewalt in der eigenen Community – heisst es, sie sei eine Rassistin. So erging es der Autorin Kaltërina Latifi. Sie ist bekannt als Kolumnistin für den «Tages-Anzeiger». In einer Kolumne vor einem Jahr kritisierte sie Strukturen in der albanischen Kultur: Die albanische Frau sei immer die Tochter, die Schwester oder die Ehefrau von einem Mann, schrieb sie. Und: «Die Frau hat keinen Selbstwert. Ihr Wert ergibt sich (...) immer im Verhältnis zum Mann.» Dieses «Besitztum» begünstige Gewalt, sagt Kaltërina Latifi.
Artikel sorgte für Widerspruch
Der Artikel löste heftige Proteste aus. 90 Frauen schrieben einen offenen Brief und warfen Kaltërina Latifi internalisierten Rassismus vor. Sie beschreibe die albanische Kultur als etwas, das Frauen systematisch unterdrücke: «Dabei scheint sie die gesamte Gemeinschaft unter Generalverdacht zu stellen (...)» SRF fragten viele der Initiantinnen des offenen Briefs sowie weitere Frauen für Interviews an. Die Frauen meldeten sich auf Anfrage nicht zurück oder sagten ab. Sie kritisierten den Fokus auf die albanische Community. Sie fürchteten Vorurteile und Rassismus. Ängste, die berechtigt sind. Denn seit Jahren musste die kosovarische Diaspora oft als Feindbild herhalten.
Ein anderes Bild der Community
Arbela Statovci gab nach vielen Absagen als erste ein Interview. Sie gehörte nicht zu den Initiantinnen des offenen Briefs, unterzeichnete ihn aber ebenfalls. Auch sie ist Schweiz-Kosovarin und möchte eine andere Seite der albanischen Community zeigen, die sich in den letzten Jahrzehnten stark weiterentwickelt habe: «Wir sind ein integrativer Teil der Schweizer Wirtschaft. Wir sind Politikerinnen, Ärztinnen, Unternehmerinnen. Wenn diese Seite nicht erwähnt wird, schürt das Rassismus.»
Der Text sei pauschalisierend, sagt Arbela Statovci: «Ich sage nicht, dass es keine Gewalt gibt oder keine frauenfeindlichen Denkmuster. Die gibt es aber auch in Schweizer konservativen Milieus. Diese Pauschalisierung, das ist vielen ein Dorn im Auge.»
Kann man die eigene Kultur kritisieren?
Angesprochen auf den Hauptvorwurf, dass sie mit ihrem Text pauschalisiere, spricht Kaltërina Latifi von einem Missverständnis. «Es geht nicht darum, dass alle Albaner so sind. Ich rede von strukturellen Problemen, von einer Struktur, die unser kulturelles Wertesystem betrifft. Das prangere ich an und möchte ich verändern.»
Kaltërina Latifi sagt auch, es sei ihr nicht leicht gefallen diese Dinge anzusprechen. Sie verstehe, dass man sich verletzt fühlen könne. Aber: «Kann man die eigene Kultur nicht kritisieren, ohne dass man des Rassismus bezichtigt wird?»
Debatte ausgelöst
Der Artikel von Kaltërina Latifi löste nicht nur Kritik aus, sondern auch Zustimmung – und es gab eine breite Debatte in der albanischen Community. Ein albanischer Verein organisierte ein halbes Jahr später eine öffentliche Diskussion zum Thema häusliche Gewalt. Auf dem Podium war auch Kaltërina Latifi.
Der Artikel habe wichtige Themen aufgegriffen, sagt auch Arbela Statovci. Schon ihre Mütter und Grossmütter hätten für Gleichberechtigung gekämpft, ihre Generation ziehe dies weiter: «Solange wir lösungsorientiert darüber reden – jederzeit.»