Was ist die Ausgangslage? Muss die Statue von Alfred Escher vor dem Hauptbahnhof weichen? Müssen rassistische Hausinschriften abgedeckt werden? Darf Kunst, die Juden unter Zwang verkauft haben, im Zürcher Kunsthaus hängen? Sollten mehr Plätze und Strassen nach Frauen benannt werden?
Solche und ähnliche Fragen haben in den letzten Dekaden die Stadt Zürich beschäftigt, sei es als politischer Vorstoss im Stadtparlament, als Initiative aus der Bevölkerung oder als kontroverse Diskussion in den Medien. Bisher wurden diese Fragen fallspezifisch von unterschiedlichen Fachstellen, Arbeitsgruppen und Bereichen der Stadtverwaltung behandelt. Um diese Themen künftig strategisch einheitlich anzugehen, hat Zürich als erste Schweizer Stadt eine Strategie zur Erinnerungskultur entwickelt.
Was ist Erinnerungskultur? Es geht um alle Formen des Erinnerns an historische Ereignisse, Personen und Orte. Da verschiedene Gruppen unterschiedlich darüber denken, entstehen zwangsläufig Widersprüche und Auseinandersetzungen. Es geht schliesslich um die Deutung von Geschichte. Dafür gab es in den letzten Jahren viele umstrittene Beispiele – etwa die rassistischen Hausinschriften im Zürcher Niederdorf –, aber auch allgemein akzeptierte Fälle, wie das Setzen von Stolpersteinen im Gedenken an NS-Opfer.
Beispiele für den Zürcher Umgang mit Erinnerungskultur
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Bild 1 von 9. Kritik an Alfred Escher wegen Kolonialismus und Sklaverei. 2020 geriet die Alfred-Escher-Statue vor dem Zürcher Hauptbahnhof in die Kritik, weil er und seine Familie vom Kolonialismus und der Sklaverei profitierten. Schon bei der Errichtung des Denkmals 1889 wurde kritisiert, dass ein «Held des Kapitals» an so zentraler Stelle steht. Am 1. Mai 1991 gab es einen Versuch, das Denkmal zu stürzen. Bildquelle: Keystone / Christian Beutler.
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Bild 2 von 9. Hausinschrift «Zum Mohrenkopf» wird abgedeckt . Über die Inschriften «Zum Mohrenkopf» und «Zum Mohrentanz» an zwei Häusern im Zürcher Niederdorf wird seit Jahren diskutiert. Für die Stadt Zürich sind sie klar rassistisch. Daher wurden zuerst Kontexttafeln angebracht. Nun will die Stadt die Inschriften abdecken. Der Heimatschutz wehrte sich dagegen, ist aber 2025 vor Bundesgericht abgeblitzt. Bildquelle: Keystone / Gaëtan Bally.
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Bild 3 von 9. Debatte um die Umbenennung der Rudolf-Brun-Brücke. Als 1913 die Rudolf-Brun-Brücke über die Limmat gebaut wurde, hiess sie noch Uraniabrücke. 1951 erhielt sie den Namen des ersten Zürcher Bürgermeisters. Er wird für die Ermordung sämtlicher Zürcher Juden während der Pest 1349 verantwortlich gemacht. Die AL wollte den Namen der Brücke in Frau-Minne-Brücke ändern, scheiterte aber im Parlament. Bildquelle: Baugeschichtliches Archiv / Tiefbauamt Zürich.
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Bild 4 von 9. Streit um die Bührle-Bilder im Kunsthaus. Die Bilder des Waffenhändlers Emil Bührle sind seit 2021 im Erweiterungsbau des Kunsthauses zu sehen – und seither werden sie kritisiert. Der Bührle-Stiftung wird vorgeworfen, sie habe die Herkunft der Bilder nicht korrekt aufgearbeitet. Einige der jüdischen Vorbesitzer mussten sie unter Zwang verkaufen, um die Flucht vor den Nazis zu finanzieren. Bildquelle: Keystone / Michael Buholzer.
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Bild 5 von 9. Stolpersteine für Opfer des Nationalsozialismus. Mit im Boden verlegten kleinen Gedenktafeln soll an das Schicksal der Menschen erinnert werden, die in der NS-Zeit verfolgt, ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben wurden. Stolpersteine werden in Deutschland und 25 weiteren europäischen Ländern verlegt. In der Schweiz existieren erste Steine etwa in Basel, Bern und Zürich. Bildquelle: Keystone / Walter Bieri.
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Bild 6 von 9. Emilie-Lieberherr-Platz an der Langstrasse. Seit 2020 ist ein Platz an der Zürcher Langstrasse nach Emilie Lieberherr benannt, die 1970 als erste Frau in den Stadtrat gewählt wurde. Sie war unter anderem beteiligt an der Einführung der Heroinabgabe an Schwerstsüchtige. Der Platz ist ein Beispiel für die Anstrengungen der Stadt, mehr Strassen und Orte nach Zürcher Frauenfiguren zu benennen. Bildquelle: Keystone / Alexandra Wey.
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Bild 7 von 9. Gedenktafel für den Fussballer und Fussballtrainer Köbi Kuhn. Am Geburtsort von Köbi Kuhn an der Fritschistrasse in Zürich-Wiedikon wurde 2020 eine Gedenktafel angebracht. Köbi Kuhn (1943–2019) wurde mit dem FC Zürich sechsmal Schweizer Meister und fünfmal Cupsieger, von 2001 bis 2008 war er Trainer der Schweizer Nationalmannschaft der Männer. Bildquelle: Keystone / Ennio Leanza.
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Bild 8 von 9. Noch kein Mahnmal für die Hexenverfolgung in Zürich. Zwischen 1487 und 1701 wurden in der Stadt Zürich 85 Menschen, 80 davon Frauen, der Hexerei angeklagt, gefoltert und dann verbrannt, ertränkt oder enthauptet. 2014 unterstützte das Stadtparlament einen Vorstoss, der ein Mahnmal für die Hexenverfolgung in Zürich forderte. Der Stadtrat tut sich schwer mit der Forderung – umgesetzt ist sie noch nicht. Bildquelle: Zürich, ZB, Handschriftenabteilung, Ms F 13, Bl 90v.
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Bild 9 von 9. Wandgemälde einer reichen jüdischen Familie an der Brunngasse 8. Im 14. Jahrhundert bewohnten das Haus an der Brunngasse 8 die Witwe Minne und ihre Söhne. Das Wandgemälde zierte einen Festsaal der einflussreichen jüdischen Familie, wo auch christliche Zürcher dinierten. Die jüdische Gemeinschaft wurde in Zürich 1349 ausgelöscht. Das Wandbild wurde 1996 wiederentdeckt, seit 2020 ist der Ort als Museum zugänglich. Bildquelle: Baugeschichtliches Archiv/Juliet Haller.
Was will die Stadt Zürich erreichen? Die Stadt Zürich will zum althergebrachten Narrativ der reichen weissen Männer ein kritischeres Geschichtsbewusstsein beiziehen, wie auch die Sicht anderer Gemeinschaften und von Minderheiten. Wenig beachtete historische Themen sollen in den Blick der Öffentlichkeit rücken. Es bestehe ein Bedürfnis, die Geschichte Zürichs umfassender zu erzählen, schreibt der Stadtrat in einer Mitteilung. Es wurden strategische Ziele festgelegt in den Bereichen Forschung, Vermittlung, Vernetzung sowie öffentlicher Raum und Denkmäler. Der Stadtrat will eine «lebendige, vielfältige Erinnerungskultur» und diese koordinieren, vernetzen und ermöglichen.
Was lanciert Zürich neu? Die Stadt schafft ab 2027 eine neue Fachstelle Erinnerungskultur. Diese koordiniert alle städtischen Aktivitäten über die Departementsgrenzen hinweg und ist externe Ansprechpartnerin. Die Fachstelle vernetzt, entwickelt Prozesse für historische Studien und organisiert Austauschformate.
Wie wird die Öffentlichkeit einbezogen? Die Stadt Zürich vergibt neu finanzielle Mittel für erinnerungskulturelle Projekte. Schulen, Vereine und Einzelpersonen, die ein Gesuch für diese Finanzierung einreichen wollen, können sich bei der neuen Fachstelle beraten lassen. Bestehende Denkmäler, Strassennamen oder Darstellungen an Gebäuden können auf Anregung der Öffentlichkeit hin aufgearbeitet und vermittelt werden. In Härtefällen könne auch eine Entfernung geprüft werden, schreibt die Stadt in der neuen Strategie.
Wird es sichtbare Resultate geben? Zürich hat kein Standardwerk zur Geschichte der Stadt. Die Stadt will nun eine solche neue und zeitgemässe Stadtgeschichte prüfen lassen. Ebenfalls lässt sie ein digitales «Living Archive» prüfen, wo Zeichen und Orte im Stadtraum erfasst, dokumentiert und für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden können.
Was kostet das? Der Stadtrat beantragt beim Stadtparlament wiederkehrende Ausgaben von 375'000 Franken pro Jahr.