«Habt ihr die Karte mit eurem Wunschberuf in der Hand?», fragt der Sekundarlehrer Sven Wellauer seine Klasse. Die Schülerinnen und Schüler der zweiten Oberstufe im Krämeracker in Uster stehen ratlos vor unzähligen Berufskärtchen. Die Auswahl ist gross: 250 verschiedene Lehrberufe gibt es in der Schweiz.
Zwei Drittel der Jugendlichen in der Schweiz entscheiden sich für eine Lehre – und müssen also bereits mit 14 Jahren eine der wichtigsten Entscheidungen fürs Leben treffen. In kaum einem anderen Land beschäftigen sich Jugendliche so früh mit der Berufswahl wie in der Schweiz.
Videointerviews, «Matchingdays» & Co.
Und die Anforderungen steigen. Bereits für Schnupperlehren müssen die Jugendlichen heute ein aufwändiges Bewerbungsdossier einreichen. «Ein Anruf reicht eigentlich nicht mehr», sagt Wellauer, der seine Schülerinnen und Schüler im Unterricht engmaschig betreut.
Diese steigenden Ansprüche bereiten dem Lehrer Sorgen. Denn viele Firmen verlangen inzwischen Multichecks, Bewerbungsvideos oder führen interne Tests durch. Das werde gerade leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern zum Verhängnis: «Gewisse Schüler müssen die Chance bekommen, sich vor Ort zeigen zu können», sagt Wellauer.
Ohne Hilfe von zu Hause schwierig
Im Gegensatz zu einigen Mitschülern weiss Andri Foster, was er will: eine Bank- oder Versicherungslehre. Er ist ambitioniert: «Auch wenn ich viel Druck habe, sage ich mir immer: Du schaffst das!» Schon vor den Sommerferien sass er mehrere Tage am Laptop, schrieb Bewerbungen und nahm Bewerbungsvideos auf.
Unterstützt wird er von seinem Vater: «Wenn man zu Hause keine Hilfe hat, stelle ich mir das extrem schwierig vor», sagt er. «Auch wir kommen an unsere Grenzen, alles zeitlich unter einen Hut zu bringen.»
Firmen rekrutieren immer früher
Nicht nur für die Jugendlichen ist der Aufwand gross – auch für die Firmen. Grosse Lehrbetriebe wie Siemens erhalten mehrere tausend Bewerbungen pro Jahr. Es werde immer schwieriger, zu erkennen, wie gut ein Bewerber oder eine Bewerberin wirklich sei: «Wir stellen fest, dass viele Bewerbungen mit künstlicher Intelligenz erstellt werden», sagt Melanie Fahrner, Ausbildungsverantwortliche bei Siemens – und rechtfertigt damit den neu eingeführten Selektionsschritt: das Videointerview.
Firmen rekrutieren zudem immer früher. «Teilweise müssen sich Jugendliche bereits vor den Sommerferien bewerben, obwohl sie erst in der zweiten Oberstufe sind», sagt der Leiter der Berufsbildung bei Siemens, Michele Marchesi. «Man nimmt ihnen die Zeit, die sie bräuchten, um sich wirklich zu orientieren.»
Wer bei der Siemens in den Videointerviews überzeugt, wird an den Assessment-Tag eingeladen. In Vierergruppen werden die Bewerber geprüft. Texte schreiben, Einzelgespräche und Gruppenarbeiten gehören dazu. Zum Beispiel gemeinsam in 15 Minuten eine Kugelbahn bauen.
Auch Andri Foster muss an einen Assessment-Tag – bei der Zürich Versicherung. Es läuft gut und er bekommt eine Zusage. Doch er sagt nicht sofort zu, denn er fährt mehrgleisig. Zwei Wochen später bekommt er die Zusage von der Zürcher Kantonalbank. Diese Lehrstelle nimmt er an. Doch so geht es längst nicht allen. In seiner Klasse sind noch immer 15 auf der Suche.