«Wie in einem schlechten Horrorfilm», so beschreibt Hiyoba den Moment, als Kevin B. sie mit dem Auto erfasste. Mit ihrer Freundin Sarah fuhr die damals 15-Jährige auf dem Velo von der Schule nach Hause.
«Wir haben noch überlegt, ob wir an der Kreuzung links oder rechts fahren sollen. Wir haben uns falsch entschieden», sagt Sarah, als SRF Investigativ die beiden jungen Frauen in Amriswil trifft.
Amokfahrt war monatelang geplant
Menschen töten oder schwer verletzen – das war das Ziel des 27-jährigen Kevin B., als er am 11. September 2020 in sein Auto stieg und losfuhr. Kevin B. heisst eigentlich anders. Sein Motiv: Hass. Hass auf die Gesellschaft, auf Migrantinnen und Migranten, auf Frauen. Seine Tat hatte er monatelang geplant, hatte ein Auto gekauft, Waffen besorgt. So steht es im Gerichtsurteil.
Was bisher nicht bekannt war: Das Bundesamt für Polizei (Fedpol) listet die Amokfahrt von Kevin B. als Fall von Incel-Extremismus auf. Das zeigt eine interne Kurzanalyse zur Incel-Bewegung aus dem Jahr 2022, die SRF Investigativ vorliegt. Es ist das erste Mal, dass Fedpol eine solche Analyse erstellt hat.
Über 50 Tote durch Incel-Attentate
Incels vernetzen sich online – auf Foren, Imageboards, im Darknet. Während einige Incels im Netz über ihre Unsicherheit und Einsamkeit schreiben, radikalisieren sich andere. In den vergangenen Jahren kam es weltweit zu mehreren Attentaten von Incels. Die Wut der Attentäter richtete sich nicht einzig gegen Frauen, sondern die gesamte Gesellschaft.
2014 erschoss in den USA ein 22-jähriger Mann sechs Menschen. In einem Video begründete er seine Tat damit, sich rächen zu wollen, weil Frauen ihn zurückgewiesen hätten. Bei einer Amokfahrt in Kanada tötete ein Incel 2018 zehn Menschen. Auch das Attentat im deutschen Halle 2019 wird mit der Incel-Ideologie in Verbindung gebracht.
Laut der Kurzanalyse des Fedpol wurden seit 2014 weltweit über 50 Menschen bei Anschlägen von Incels getötet. Was die Attentäter verbindet: Es sind junge Männer, die kaum soziale Kontakte pflegten und sich auf einschlägigen Foren radikalisierten.
Dies geht aus dem Urteil des Bezirksgerichts Arbon aus dem Jahr 2023 hervor. Das Gericht schreibt über Kevin B.:
Wie gross die Incel-Subkultur ist, lässt sich nur schwer beziffern. Auf einem der weltweit grössten Incel-Foren sind 2025 rund 34’000 Personen registriert. Wer mitreden und in die Community aufgenommen werden will, muss seine Geschichte erzählen und aufzeigen, weshalb er Incel ist. Frauen sind nicht zugelassen, genauso wenig wie Schwule oder heterosexuelle Männer, die keine Incel sind.
Einmal registriert, offenbart sich die Hasswelt der Incels. Manche Forumsbeiträge drehen sich um harmlose Themen («Was habt ihr für Hobbies?», «Was sind eure Lieblingsbücher?»), andere Posts zeugen von Einsamkeit, psychischen Problemen und Angst.
Doch nur ein paar Klicks weiter tun sich Abgründe auf.
Ein grosser Teil der Beiträge im Forum ist voller Hass. Hassobjekt Nummer eins: Frauen. «Die Wut in den Incel-Foren kommt von gekränkter Männlichkeit oder einem gekränkten Anspruchsdenken», sagt Veronika Kracher. Die Soziologin forscht seit Jahren zur Incel-Szene und hat ein Buch über die Bewegung geschrieben. Sie bezeichnet sich selbst als Feministin, ist also das Feindbild vieler Incels.
Das Fantasieren über sexualisierte Gewalt sei in der Incel-Community eine Art Treibstoff, eine eigene Kategorie. «Darunter fällt in der Regel Gewalt gegen Frauen, sei es das Ausmalen einer Vergewaltigung oder das Teilen von Videos, in denen Frauen vergewaltigt oder ermordet werden. Incels sagen: Frauen sind schuld daran, dass es mir schlecht geht. Und deswegen ist es in Ordnung, sie zu hassen und ihnen Gewalt anzutun.»
Auch Kevin B. war voller Hass. Seine Gedanken schrieb er in ein Manifest. Er verfasste seine Hassschrift auf Englisch. Er habe «international gedacht», steht im Urteil des Bezirksgerichts Arbon. Der Text offenbart das Weltbild von Kevin B.: rassistisch, antisemitisch, frauenfeindlich.
Incel-Expertin Veronika Kracher hat die Hassschrift von Kevin B. analysiert und ordnet sie für SRF Investigativ ein. Sie sieht in Kevin B. einen klassischen, online radikalisierten Täter: «Er möchte seine Rolle als vermeintlicher Verlierer der Gesellschaft kompensieren, indem er Gewalt gegen andere ausübt. An der Sprache des Manifests sieht man, dass der Täter in menschenfeindlichen digitalen Räumen sozialisiert worden ist.»
Das Manifest habe Elemente von Incel-Sprache und -Ideologie, sagt Kracher: «Vor allem den Frauenhass, die Verwendung von Incel-Begriffen und der starke Fokus auf die eigene Opferrolle.» Was fehle, sei die Obsession mit dem eigenen Aussehen und dem Mangel an Sex. «Diese Themen nehmen bei reinen Incel-Anschlägen eine zentralere Rolle ein.»
Ob Kevin B. sich selbst als Incel bezeichnet, ist unklar. SRF Investigativ hat Kevin B. kontaktiert, er wollte sich nicht zu seinem Fall äussern.
Das vergessene Handy sei mitunter der Grund dafür, dass es an diesem Tag keine weiteren Opfer gegeben habe. Zu diesem Schluss kommt das Gericht in seinem Urteil.
Terroranschläge oder Amokläufe live zu streamen, sei inzwischen eine bittere Tradition der Täter geworden, sagt Incel-Expertin Veronika Kracher.
«Ziel ist es, den Gewaltakt als Unterhaltung zu prägen. Gleichgesinnte können sich dann diesen Livestream anschauen und sich daran ergötzen. Man kann seine Fussstapfen in dieser Bewegung hinterlassen. Das ist auch das Ziel des Manifests und Livestream von Kevin B. Er möchte in die Reihen der Heiligen und Helden aufsteigen.»
Sarah und Hiyoba haben die Aufzeichnung des Livestreams gesehen, durchlebten die Tat ein zweites Mal. «Es hat sich angefühlt, wie in einem Videospiel», sagt Sarah. «Wie er aus der Wohnung rennt, wie er mit lauter Musik Auto fährt. Als wäre er in einem Videospiel gefangen.» Hiyoba erinnert sich an das Bild, wie sie durch die Luft geschleudert wird. «Man sieht es und kann gar nicht glauben, dass man das wirklich selbst ist.»
2023 wird Kevin B. vom Bezirksgericht Arbon zu dreizehneinhalb Jahren Haft verurteilt. Unter anderem wegen versuchten Mordes. Statt ins Gefängnis, kommt er in eine geschlossene Psychiatrie.
Fedpol beobachtet Incel-Extremismus nicht systematisch
Die Amokfahrt von Kevin B. ist bis heute das einzige bekannte Incel-Attentat der Schweiz. Erwähnt wurde es als Fall von Incel-Extremismus vom Fedpol in einer Kurzanalyse von 2022. «Die Informationen, die uns zu diesem Fall vorlagen, haben den Schluss damals zugelassen, dass die Incel-Ideologie ein mögliches Tatmotiv sein dürfte», sagt Patrick Jean, Mediensprecher des Bundesamtes für Polizei. Die Auflistung des Falls sei eine Momentaufnahme gewesen: «Die Analyse umfasst Informationen aus den Jahren 2017 bis 2022. Wir wissen nicht, was vorher und nachher war.»
In der Kurzanalyse schreibt das Fedpol: «In der Schweiz scheint sich die Incel-Problematik in den letzten Jahren verschärft zu haben.» Auch diese Feststellung beziehe sich auf den beobachteten Zeitraum, sagt Fedpol-Sprecher Jean. Deshalb könne man auch nichts darüber sagen, wie gross die Gefahr der Incel-Bewegung für die Schweiz heute sei. Die Bundespolizei beobachte die Gefährdungslage durch Incel-Extremismus nicht systematisch. Sie habe dafür keinen politischen Auftrag und setze die Prioritäten anders, sagt Patrick Jean.
Fünf Jahre sind seit der Amokfahrt von Kevin B. vergangen. Seit der Tat ist Sarah nie wieder Velo gefahren. Hiyoba musste wegen ihren Verletzungen ihre Leidenschaft – die Leichtathletik – aufgeben: «Ich bin 20 Jahre alt und kann kaum meine Haare selbst waschen, weil mein Körper noch immer nicht ganz gesund ist.»
Wenn sie ihre Familie in Amriswil besucht, umfährt sie die Quartierstrasse, die zum Tatort wurde, noch heute.