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Kurdische Asylsuchende Von der Schweiz abgewiesen – in der Türkei inhaftiert

Die Schweiz hat mehreren türkischen Staatsangehörigen Asyl verweigert – doch nach ihrer Rückkehr wurden diese in der Türkei inhaftiert. Nun schlagen Hilfsorganisationen Alarm, wie Recherchen von SRF Investigativ zeigen.

Alan sitzt seit rund drei Monaten in einem türkischen Gefängnis. Der Vorwurf: Unterstützung einer terroristischen Organisation. Er hatte genau das befürchtet: Eine Verfolgung durch den türkischen Staat, weil er sich für eine kurdische Partei politisch engagierte. 

Aus diesem Grund hat Alan, der eigentlich anders heisst, vor zwei Jahren Asyl in der Schweiz beantragt. Er reichte Dokumente ein, die belegen sollten, dass die türkischen Behörden wegen seiner Politaktivitäten gegen ihn ermitteln.  

Schweizer Richter: Alans Angst «unbegründet»

Die Behörden in der Schweiz aber beurteilten Alans Furcht vor einer Verfolgung als «offensichtlich unbegründet», wie es im letztinstanzlichen Urteil heisst. Sein politisches Engagement sei zu niederschwellig und die Beweise für ein drohendes Verfahren in der Türkei unglaubwürdig oder möglicherweise gefälscht. Selbst wenn man Alan glaubte, dass er von türkischen Beamten belästigt und misshandelt worden sei, genüge dies für Asyl nicht, so der Bundesverwaltungsrichter.

Zelle für Ausschaffungshäftlinge im Flughafengefängnis in Zürich
Legende: Zelle für Ausschaffungshäftlinge im Flughafengefängnis in Zürich. Keystone SDA

Anfang September musste Alan die Schweiz verlassen. Am Flughafen in der Türkei wurde er direkt festgenommen. Seither sitzt er in Haft, wie sein Bruder Miro erzählt. Auch dessen Namen ist zum Schutz der Familie geändert. «Seine Situation ist sehr, sehr schlecht», sagt Miro. Psychisch und körperlich gehe es Alan gar nicht gut. Ihm drohten mindestens acht bis zehn Jahre Gefängnis.

Ein Dutzend Asylsuchende aus der Türkei sind betroffen 

Alan ist kein Einzelfall. Wie SRF Investigativ in Erfahrung bringt, gab es in den letzten Monaten mindestens zwölf ähnlich gelagerte Fälle. Diese zusammengetragen haben die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) und die Demokratischen Jurist:innen Schweiz. 

Demnach gaben alle diese zwölf Betroffenen als Asylgrund an, dass Verfahren wegen politischer Delikte wie Präsidentenbeleidigung oder Terrorpropaganda liefen. Alle seien nach der Wegweisung aus der Schweiz in der Türkei festgenommen oder inhaftiert worden.

Eliane Engeler, Medienverantwortliche bei der Flüchtlingshilfe, spricht von einer besorgniserregenden Situation: «Wir sehen immer häufiger, dass abgewiesene Asylsuchende nach ihrer Rückkehr in die Türkei inhaftiert werden.» Einige seien für Wochen oder sogar Monate in Haft. 

«Oppositionelle in der Türkei werden mundtot gemacht»

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Pro-kurdische Demonstration in Genf im Oktober 2020
Legende: Pro-kurdische Demonstration in Genf im Oktober 2020 Keystone-SDA

Unter den zwölf Fällen sind etliche Kurden und Kurdinnen – etwa ein 79-Jähriger, der wegen kritischer Publikationen ins Visier des türkischen Staats geriet, oder eine rund 40-jährige alevitische Kurdin, die nach eigenen Angaben mehrfach von der Polizei bei ihren Eltern gesucht wurde. Auch sie wurden von der Schweiz ausgewiesen und bei der Rückkehr in die Türkei längere Zeit festgehalten oder inhaftiert. 

Kurdinnen und Kurden gelten in der Türkei als besonders marginalisiert. Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch kritisieren seit Langem systematische Diskriminierung und Verfolgung. Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) berichtet von Strafverfahren wegen kurdischer Aktivitäten oder angeblicher Gülen-Verbindungen. «Haftandrohung und willkürliche Haft werden missbraucht, um Oppositionelle mundtot zu machen», sagt SFH-Sprecherin Eliane Engeler. Die Organisation «Pro Asyl» kommt zu ähnlichen Schlüssen: Terrorvorwürfe würden in der Türkei willkürlich erhoben, Verfahren seien nicht rechtsstaatlich. 

Die türkische Regierung hat als Reaktion auf entsprechende Kritik Reformbedarf eingeräumt und verwies auf laufende Verbesserungsprozesse im Justiz- und Menschenrechtsbereich. Spezifische Vorwürfe, etwa in Zusammenhang mit Terrorismusbekämpfung gegen kurdische Gruppen, weist die Türkei regelmässig als politisch motiviert zurück. 

«Die Schweiz verfolgt eine sehr restriktive Asylpraxis gegenüber türkischen Asylsuchenden», so Engeler. Für Betroffene sei es unterdessen sehr schwierig geworden, eine individuelle Gefährdung nachzuweisen. Die SFH kritisiert das scharf.  

Mitte Oktober forderten die Organisationen in einem Brief das Staatssekretariat für Migration (SEM) auf, abgewiesene Asylsuchende vorläufig nicht mehr in die Türkei zurückzuschicken und die Praxis zu prüfen. 

Türkische Dokumente – sowieso gefälscht? 

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Ein juristischer Streitpunkt in den Asylverfahren türkischer Staatsangehöriger sind sogenannte Vorführbefehle und andere Dokumente aus türkischen Straf- und Ermittlungsverfahren. Ein Vorführbefehl bedeutet, dass gegen die Person Ermittlungen laufen – zum Beispiel wegen Präsidentenbeleidigung oder Unterstützung einer terroristischen Organisation – und diese zur Einvernahme bei Polizei oder Staatsanwaltschaft vorstellig werden muss. Die Schweizer Behörden argumentieren: Solche Dokumente würden in der Türkei sehr oft gefälscht oder gegen Geld ausgestellt, ihnen käme deshalb eine geringe Beweiskraft zu. Zudem bedeute eine Einvernahme noch keine Inhaftierung. Diese Praxis hat das Bundesverwaltungsgericht mit einem Urteil vom Herbst 2024 konsolidiert. Anwältinnen von abgewiesenen Asylsuchenden kritisieren: Wenn türkische Staatsangehörige in der Schweiz Asyl suchen und solche Dokumente als Beleg für eine politische Verfolgung vorlegen, hätten diese praktisch keine Relevanz mehr.  

Auf Anfrage von SRF Investigativ betont das Staatssekretariat für Migration, die Hinweise würden ernst genommen und jeder einzelne Fall nun geprüft. Das SEM prüfe stets die eingereichten Dokumente und die Wahrscheinlichkeit einer Inhaftierung im Einzelfall. 

Schweiz weist türkische Asylsuchende weiterhin weg 

Gemäss Recherchen hatte die Intervention der Hilfsorganisationen bisher keine Auswirkung auf die Asylpraxis. Seit dem Briefwechsel Mitte Oktober hat das Bundesverwaltungsgericht mindestens 25 weitere Wegweisungen von türkischen Kurdinnen und Kurden, die eine politische Verfolgung als Asylgrund vorbrachten, abgenickt. Das Gericht will auf Anfrage von SRF Investigativ den Sachverhalt nicht kommentieren. 

Das sagen SEM und Bundesverwaltungsgericht  

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Das Staatssekretariat für Migration schreibt auf Anfrage: «Die jüngsten Meldungen der SFH zu abgewiesenen türkischen Asylsuchenden, die nach ihrer Rückkehr in die Türkei inhaftiert worden seien, nimmt das SEM ernst und prüft nun jeden dieser Fälle.» Insbesondere Vorführbefehle, die von türkischen Asylsuchenden eingereicht werden, seien fälschungsanfällig, weil diese Dokumente relativ leicht zu beschaffen seien, so das SEM. Es würde stets geprüft, zu welchem Zweck diese ausgestellt worden seien «und ob damit eine Inhaftierung im Einzelfall wahrscheinlich ist». Es bestehe keine automatische Annahme von Fälschungen. Das SEM prüfe zudem, ob eine Strafverfolgung im Heimatland des Asylsuchenden legitim sei, also zum Beispiel auch in der Schweiz ein Strafverfahren nach sich ziehen würde. Ist dies der Fall, werde zusätzlich geprüft, ob ein sogenannter Politmalus vorliege, was flüchtlingsrechtlich relevant wäre. Je nach Entwicklungen in den Herkunftsländern wird die Asylpraxis laut Staatssekretariat bei Bedarf angepasst. Dabei sei das SEM an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gebunden. 

Das Bundesverwaltungsgericht, das mit einem Urteil im Herbst 2024 die jetzige Asylpraxis geformt hat, schreibt auf Anfrage von SRF Investigativ, es kommentiere seine Urteile nicht und entscheide immer Einzelfälle: «Dabei berücksichtigt es die aktuelle Situation im jeweiligen Land und prüft stets das Risiko einer Gefährdung im Fall einer Rückkehr.»

Was mit den zwölf Betroffenen passiert, ob sie etwa, wie von ihren Anwältinnen gefordert, ein humanitäres Visum in der Schweiz erhalten, ist derzeit unklar.  

Miro sorgt sich um seinen Bruder Alan – und um sein eigenes Schicksal. Auch er sei in der Türkei angeklagt, weil er sich als Kurde politisch betätigt habe. Miro hat deshalb auch Asyl in der Schweiz beantragt. Das Gesuch wurde in erster Instanz abgewiesen – das Verfahren ist noch hängig. «Ich habe Albträume», sagt Miro: «Ich kann nicht in die Türkei zurückkehren.»

Rendez vous, 4.12.25, 12:30 Uhr; wilh

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