Lili Glarner führt ein gesittetes Leben. Sie wächst in einer angesehenen Arztfamilie im aargauischen Wildegg auf. Ihr Herz schlägt aber für den Kommunismus. Am 21. April 1933 trifft die Aargauerin einen Entscheid, der ihr Leben für immer verändern wird. Die Geschichte von Lili Glarner wird derzeit an einem Bühnentheater erzählt.
Lili Glarner ist 25 Jahre alt, als sie ihre Eltern mit ihren Plänen vor den Kopf stösst. Sie kündigt an, dass sie ihren niederländischen Freund heiraten wird – mit oder ohne die Einwilligung der Familie. Den entsetzten Eltern teilt Glarner gleich noch eine zweite Entscheidung mit: Sie werde mit ihrem Freund in die Sowjetunion auswandern.
Vom behüteten Zuhause ins Gefängnis
Am nächsten Tag bricht das Liebespaar nach Berlin auf, um sich die Visa zu besorgen. Doch Deutschland befindet sich 1933 in einem radikalen Umbruch. Rund drei Monate zuvor haben die Nationalsozialisten die Macht ergriffen und damit begonnen, ihr Schreckensregime aufzubauen. Während die zwei Verliebten auf ihre Visa warten, schliessen sie sich einer kommunistischen Widerstandsbewegung an. Kurze Zeit später fliegt die Gruppe auf und wird von der Gestapo festgenommen.
Das erste Mal, dass Margrith und Paul Glarner von ihrer Tochter hören, ist durch einen Anruf aus dem Untersuchungsgefängnis in Berlin. Lili Glarner bleibt 15 Monate inhaftiert, 12 davon in Einzelhaft. In Briefen teilt sie ihrer Mutter ihr Leid mit. So beklagt sie sich, dass sie die Sonne seit Wochen nicht gesehen habe: «Am Anfang war ich richtig betrübt, jetzt ist mir auch das gleichgültig; ich verkrieche mich mit sämtlichen Gefühlen in mein Schneckenhaus.»
Lili Glarners Vater setzt alle Hebel in Bewegung, um die Freilassung seiner Tochter zu erwirken. Er macht Druck bei den Schweizer Behörden und tritt auch mit Männern aus dem Nazi-Umfeld in Kontakt.
Freilassung nach 15 Monaten
Der letzte Brief von Lili Glarner an ihre Mutter datiert vom 28. September 1934. Eine Woche später wird sie überraschend und ohne Begründung aus der Haft entlassen. Die Bemühungen des Vaters und ihre Schweizer Staatsbürgerschaft dürften dabei geholfen haben. Zudem nahm der damalige Freund von Glarner die Schuld auf sich und stellte seine Freundin als unwissende Mitläuferin dar.
Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz bleibt Lili Glarner im Kanton Aargau. 1938 heiratete sie ihren ehemaligen Klassenkameraden Helmut Zschockke. Auch er stammt aus einem angesehenen Elternhaus. Genau wie Glarner vertritt er kommunistischen Werte und war wegen politischer Aktivitäten ebenfalls schon im Gefängnis.
Das Ehepaar Glarner-Zschokke hat fünf Töchter und einen Sohn. Ihre beruflichen Perspektiven sind wegen ihres politischen Engagements in den Jahren des Kalten Krieges beschränkt. Während Zschokke in Aarau ein nicht sehr erfolgreiches Optikergeschäft führt, kümmert sich Glarner um den Haushalt und arbeitet als Sekretärin und Übersetzerin.
Politisch engagiert sich Glarner in der Frauengruppe der SP, ihr Mann schreibt als ehrenamtlicher Redaktor für sozialdemokratische Presseorgane. Bis 1958 werden beide als politisch gefährlich eingestuft und polizeilich überwacht. 1965 stirbt Lili Glarner im Alter von 56 Jahren an Krebs.
Über ihre Zeit im Nazi-Gefängnis sprach sie mit ihren Kindern zu Lebzeiten nicht. Sie erfuhren erst davon, als ihr Vater 1978 starb. In seinem Nachlass fanden sich auch die Briefe von Lili Glarner aus dem Berliner Gefängnis.