Braucht die Natur ein Recht auf Recht? Im Kanton Luzern sollen alle öffentlichen Gewässer Grundrechte bekommen: Sie sollen eigene Rechtspersönlichkeiten werden. Das will die Reuss-Initiative. Über 5000 Personen unterstützen die Forderung. Das bedeutet, dass die Initiative beim Kanton Luzern Anfang 2026 eingereicht wird.
Legende:
Das Reussufer nahe der Stadt Luzern. Der Fluss soll Rechtspersönlichkeit werden.
KEYSTONE/Urs Flüeler
Ein Fluss als Rechtspersönlichkeit – was heisst das? SRF Rechtsexpertin Sibilla Bondolfi erklärt: «Wie der Mensch soll auch die Reuss oder die Natur eigene Grundrechte bekommen.» Ausgestattet mit diesen Rechten dürfte ein Fluss dann wie jede Person vor ein Gericht «gehen», wenn er seine Rechte verletzt sieht. Das könne beispielsweise dadurch gegeben sein, wenn der Fluss durch Verschmutzung als Ökosystem gefährdet sei.
Wer geht für den Fluss vor Gericht? Macht die Reuss ihre Rechte geltend, könnte sie das trotz eigener Rechtspersönlichkeit nicht selbst tun. In Kanada oder Neuseeland nehmen jeweils Flusswächter diese Aufgabe wahr. Die Reuss-Initiative will das dem Gesetzgeber überlassen, also dem Kantonsparlament. Es wird nur verlangt, dass die Gewässer «wirksam und unabhängig vertreten werden».
Gletscher als Rechtspersönlichkeit – Nein, sagt der Bundesrat
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Im Dezember 2020 reichte die Nationalrätin der Grünen, Delphine Klopfenstein Broggini, ein Postulat mit dem Titel «Rechtspersönlichkeit und Rechtswege für die Gletscher» ein. Drei Jahre zuvor hatte die heutige Präsidentin der Grünen, Lisa Mazzone, bereits ein fast gleichlautendes Postulat eingereicht.
Der Bundesrat lehnte die Idee beide Male mit folgender Begründung ab: Sachen könne man keine Rechtspersönlichkeit verleihen. Mit dem schweizerischen Rechtssystem sei das nicht vereinbar. Nur weil ein Gletscher existiere, lasse sich daraus keine Rechtspersönlichkeit ableiten. Diese sei «untrennbar mit der natürlichen Person als Individuum und mit der Ausübung ihrer zivilen Rechte, also mit ihrem gesellschaftlichen Leben, verknüpft». Den Gletschern und anderen Sachen eine Form von juristischer Persönlichkeit zuzuerkennen, sei kein gangbarer Weg, so der Bundesrat in seiner Begründung 2020.
Ein Jahr später reichten mehrere Parlamentarierinnen und Parlamentarier eine parlamentarische Initiative mit dem Ziel ein, den Schutz von Umwelt und Natur in der Bundesverfassung zu stärken. Dazu sei der Natur «mindestens partiell den Status eines Rechtssubjekts zu geben». Dem Anliegen wurde keine Folge geleistet.
Geht das überhaupt? Bis jetzt nicht. Im schweizerischen Rechtssystem ist es nicht vorgesehen, dass Sachen, Tiere, Pflanzen oder auch Gewässer als Rechtspersönlichkeiten gelten. Ändern liesse sich das. Durch politische Prozesse müssten Gesetze oder beispielsweise kantonale Verfassungen geändert werden. Genau so sieht es auch die Reuss-Initiative aus Luzern vor.
Globale Vorstösse für mehr Rechte für die Natur
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Bestrebungen, der Natur Rechte zu verleihen, gibt es weltweit:
Rechte von Mutter Erde: Die globale Petition «Rights of Mother Earth» will eine Million Unterschriften für eine Erklärung der Rechte von Mutter Erde sammeln. Ins Leben gerufen wurde diese Petition unter anderem von Doris Ragettli aus Zug. Die Natur soll als Lebewesen anerkannt werden und ihr sollen wie dem Menschen Rechte und Schutz zustehen. Diese Petition soll von den Vereinten Nationen verabschiedet werden.
Die Rhone ruft: «Appel du Rhone» heisst der Aufruf aus der französischen Schweiz. Diese Gruppe will der Rhone ihre eigene Rechtspersönlichkeit verschaffen. Unterstützt wird dieses Anliegen zum Beispiel durch die Klima-Grosseltern Lausanne, den WWF oder auch durch die französische Stadt Lyon.
Ich bin der Fluss: In Neuseeland ist der Fluss Whanganui seit 2017 eine eigene Rechtspersönlichkeit. Das neuseeländische Parlament entschied, dem Fluss den Status eines lebendigen Wesens zuzugestehen. Für die lokalen Maori ist der Whanganui ein Ahne. Wird der Fluss verschmutzt, tut man das auch den Maori an. Mit diesem Status unterscheidet das Gesetz nicht mehr zwischen Menschen und nichtmenschlicher Umwelt. Die rechtliche Vertretung des Flusses übernehmen zwei Wächter. In Neuseeland besitzen der frühere Nationalpark Te Urewera und der Berg Taranaki ebenfalls eigene Rechte.
Eigene Rechte wurden auch dem Mapie River in Kanada zugesprochen. Er hat das Recht zu existieren, zu fliessen und vor Gericht zu gehen. Auch hier sollen Wächter die Interessen des Flusses wahren. Die Rechte des Flusses sollen ihn beispielsweise vor dem Bau von Wasserkraftwerken schützen.
Ecuadors Verfassung anerkennt die Rechte der Natur explizit, in Kolumbien ist der Fluss Atrato als Rechtssubjekt anerkannt. In Spanien geniessen die Salzwasserlagune Mar Menor und ihr Einzugsgebiet Rechte auf Schutz, Erhaltung und Pflege. Jede spanische Bürgerin, jeder spanische Bürger kann für die Lagune vor Gericht gehen.
Schadenersatz statt Busse? In der geltenden Umweltgesetzgebung werden Verstösse mit einer Busse bestraft. Die Höhe einer Busse legt das Gesetz fest. Wäre der Fluss eine Rechtspersönlichkeit, könnte er hingegen Schadensersatz «einfordern» – etwa wenn eine Firma giftiges Abwasser in den Fluss leitet und das Gewässer daraufhin gesäubert und wiederhergestellt werden muss. Kann der geschädigte Fluss vor Gericht Schadenersatz verlangen, könnten das viel höhere Beträge sein als bei einer Busse, sagt SRF Rechtsexpertin Sibilla Bondolfi: «Eine Busse soll als Strafe gegen einen Gesetzesverstoss abschreckend wirken. Schadenersatz muss den angerichteten Schaden wiedergutmachen.» Das könnte durchaus eine Schutzwirkung für die Natur haben, so die Expertin.