Holger Wittig, Oberarzt am Institut für Rechtsmedizin in Basel, bittet einen jungen Mann ins Untersuchungszimmer. Der Mann sagt, er komme aus Mali. Er will anonym bleiben. Einen Pass habe er nicht, stattdessen legt er den Ausweis auf den Tisch, den er von den Migrationsbehörden bekommen hat. Auf dem Dokument steht, dass der Mann am 6. Mai 2006 geboren wurde. Zum Untersuchungszeitpunkt wäre er damit knapp unter 18 Jahre alt.
Doch die Behörden haben Zweifel, dass er tatsächlich erst 17 ist. Deshalb kommt die Rechtsmedizin zum Zug: «Wir überprüfen, ob das sein kann oder nicht», sagt Wittig und macht als Erstes ein Ganzkörperfoto. Anschliessend folgt die körperliche Untersuchung. Dafür muss der Mann T-Shirt und Schuhe ausziehen. «Behaarung sehr spärlich, Körperbau athletisch», diktiert Wittig, die Assistentin schreibt mit.
Kein Pass, Altersangabe zweifelhaft
Der Mann aus Mali ist möglicherweise einer von vielen sogenannten UMA, unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden, die in die Schweiz geflüchtet sind und deren Zahl in den letzten Jahren stark zugenommen hat. Ihnen stehen mehr Rechte zu als Volljährigen und sie geniessen besonderen Schutz. Das Problem: Oft haben die Flüchtenden keine Pässe und geben sich jünger aus, als sie sind.
Auch Jugendanwaltschaften berichten von Asylsuchenden, die etwa bei Einbrüchen erwischt wurden und sich als minderjährig ausgeben. Um das Alter von Asylsuchenden festzustellen, lassen die Behörden Analysen in fünf rechtsmedizinischen Instituten in der Schweiz durchführen. Kostenpunkt: 1500 bis 2000 Franken.
Wachstumsfugen geben Hinweise
Bei der Untersuchung kommt auch ein Röntgengerät zum Einsatz: Die Fachleute beurteilen den Fortschritt der Knochen anhand von Röntgenbildern des Gebisses und des Handgelenks. Entscheidend seien die sogenannten Wachstumsfugen, wie Wittig anhand eines früheren Röntgenbilds erklärt.
«Hier sehen wir, dass die Wachstumsfuge am Handgelenk noch offen ist und können sagen, dass diese Person mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit minderjährig ist», erklärt Wittig. Eine hundertprozentige Sicherheit, wie alt eine Person effektiv ist, gibt es jedoch nicht.
Diese mögliche Ungenauigkeit sorgt denn auch für Kritik bei Flüchtlingsorganisationen. Auch die Untersuchungen an sich seien ein Problem: «Solche Untersuchungen werden von den Behörden unterdessen routinemässig angeordnet. Sie sind ein Eingriff in die Privatsphäre der Kinder», sagt Eliane Engeler von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. Im Zweifelsfall müsse immer davon ausgegangen werden, dass die Person minderjährig ist, fordert Engeler.
In dubio pro minore – im Zweifelsfall eher minderjährig.
Holger Wittig versichert, dass die Rechtsmedizin in Zweifelsfällen immer für den Asylsuchenden entscheide: «In dubio pro minore – im Zweifelsfall eher minderjährig»
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) verteidigt die medizinischen Gutachten. «Es geht um eine glaubwürdige Asylpolitik. Es kann nicht sein, dass sich jemand als minderjährig ausgibt, der es nicht ist», sagt SEM-Sprecherin Magdalena Rast. Im letzten Jahr ordnete alleine das SEM 1800 solcher Untersuchungen an. Die Zahl der Gutachten habe stark zugenommen, stellt Wittig fest.
Im vorliegenden Fall bekommt die Rechtsmedizin die Röntgenbilder ein paar Tage nach der Untersuchung, danach schickt der Experte seine Resultate an die Migrationsbehörden. Diese entscheiden dann über das weitere Schicksal des Mannes aus Mali.