Sonntag, 10 Uhr, Gottesdienst in der reformierten Kirche Erlenbach ZH. Pfarrer Anders Stokholm begrüsst die Besucherinnen und Besucher. «Grüezi mitenand, willkomme.» Anzug und Krawatte sitzen, die Sneakers geben einen festen Stand, die sonore Stimme untermalt die Erscheinung des gross gewachsenen 59-Jährigen.
Geboren auf der dänischen Insel Møn, besuchte Stokholm Primarschule und Gymnasium in Grönland, Italien, Dänemark und schliesslich in der Schweiz. Es folgten ein Theologiestudium in Zürich und eine Anstellung als Pfarrer in Stein am Rhein SH während der 1990er-Jahre.
1999 begann Stokholm seine Politlaufbahn – als Gemeindepräsident von Eschenz TG. Zuletzt war er zehn Jahre lang Berufspolitiker, als Stadtpräsident von Frauenfeld, FDP-Kantonsparlamentarier und Präsident des Schweizer Städteverbands.
Politische «Nichtigkeiten»
Er habe sich bewusst entschieden, in seinen Beruf zurückzukehren. In einem Interview mit der «Zürichsee-Zeitung» sagte Stokholm einst: «Schon als ich 1998 als Pfarrer in Stein am Rhein aufhörte, schloss ich nicht aus, ins Pfarramt zurückzukehren.» Mit einem gefüllten Rucksack – auch dank Erfahrungen im Journalismus und in der Betriebswirtschaft.
-
Bild 1 von 5. Zehn Jahre lang war Anders Stokholm (am Rednerpult) Stadtpräsident von Frauenfeld. Bildquelle: SRF/Philipp Inauen.
-
Bild 2 von 5. Frauenfeld ist Thurgauer Hauptort mit rund 27'000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Bildquelle: SRF.
-
Bild 3 von 5. Jetzt wirkt Stokholm in Erlenbach im Kanton Zürich in der reformierten Kirche. Bildquelle: SRF/Philipp Inauen.
-
Bild 4 von 5. Statt im Ratssaal spricht der 59-Jährige nun zu Gläubigen. Bildquelle: SRF/Philipp Inauen.
-
Bild 5 von 5. Anders Stokholm: vom Pfarrer zum Stadtpräsidenten – und wieder zurück. Bildquelle: SRF/Philipp Inauen.
Den Rucksack hat der Vater zweier erwachsener Söhne nun – und predigt wieder. «Es braucht immer ein bisschen Adrenalin, damit man wirklich präsent ist. Das Prinzip ist: den Boden spüren.» Der politische Alltag sei ein anderer gewesen: Kompromisse suchen, Vorlagen ausarbeiten, Mehrheiten finden.
Und im Pfarramt? «Da hat man mit wesentlichen Fragen des Lebens zu tun. Geburt, Taufe, Tod, Lebenskrisen», sagt Stokholm. «Es ist existenzieller. Manche Themen in der Politik werden zwar heiss diskutiert, aber wenn man sie aus einer gewissen Flughöhe anschaut, sind sie dann doch Nichtigkeiten.»
Die Eidgenossenschaft als Ehe
An beiden Orten wichtig ist die Rede. Eloquenz zeichnet Anders Stokholm aus. Predigen habe er während seiner Politämter, wenn möglich, vermieden, sagt er: «Es gibt Leute, die sagen, bei mir töne es immer fast wie eine Predigt. Aber ich habe relativ oft versucht, nicht am Rednerpult zu stehen. Und wenn doch, dann lockerer, sodass es nicht wie eine Kanzel aussieht.»
Eine Parallele, die Stokholm zwischen Politik und Kirche zieht: «Der Ehebund verbindet zwei Menschen miteinander, ein Staatenbund – wie zum Beispiel die Eidgenossenschaft – verbindet Staaten oder Kantone miteinander.»
Dass er nun wieder Pfarrer ist, habe für ihn mit Abnutzungserscheinungen zu tun, mit sich wiederholenden Themen, und: «Wenn eine politische Person lange dabei ist, entwickelt sich ein Bild dieser Person, das sich nicht mehr ändert.» Man könne noch so oft das Gegenteil verkünden. «Es ist wie eine Rille in der Schallplatte.»
Unpolitisch werde ich auch als Pfarrer nie sein. Ich war auch nie ein ungläubiger Politiker.
Die Kirchenbesucherinnen und -besucher in Erlenbach ZH spüren, dass ihr Pfarrer auch Politiker war. «Er hat in der Predigt Staatsmänner zitiert», sagt eine Frau. Jemand anderes sagt: «Er ist ein politischer Pfarrer und teilt Seitenhiebe auf gewisse Zustände oder Menschen aus.» Oder: «Mir gefällt es, wenn sich ein Pfarrer zur Situation auf unserer Welt auch politisch äussert.»
Für Anders Stokholm ist klar: Er ist nun kein Politiker mehr. Ganz ausblenden könne er die Vergangenheit aber nicht: «Als Stadtpräsident war ich Stadtpräsident, als Pfarrer bin ich Pfarrer. Unpolitisch werde ich nie sein, auch nicht als Pfarrer. Aber ich war auch nie ein ungläubiger Politiker.»