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Arm im reichen Land Warum die Armut in der Schweiz nicht weniger wird

Armut in der Schweiz kehrt oft wieder zurück. Betroffen sind vor allem jene ohne stabilen Job und Familien.

Darum geht's: Es ist der erste umfassende Bericht des Bundes zur Armut in der Schweiz. Ein Team des Bundesamts für Sozialversicherungen hat dazu sämtliche verfügbaren Daten ausgewertet. In der Schweiz sind 8 bis 9 Prozent der Bevölkerung arm. Dieser Anteil ist seit über zehn Jahren stabil, obwohl sich die Schweiz eigentlich verpflichtet hatte, die Armut zu reduzieren. Der Bericht bietet nun die Grundlage für die erste nationale Armutsstrategie.

Wer gilt als arm?

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Eine Person gilt als arm, wenn ihr Haushaltseinkommen nach Berücksichtigung aller Einnahmen (inklusive Sozialleistungen und Transferzahlungen) unter dem sozialen Existenzminimum liegt. So beschreibt es das Bundesamt für Sozialversicherungen im Armutsbericht. Das heisst: Die Einnahmen reichen nicht aus, um die nötigsten Ausgaben zu decken.

Zu diesen wichtigen Ausgaben gehören laut der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe neben den Wohnkosten und den Gesundheitskosten: Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren, Bekleidung und Schuhe, Energieverbrauch, allgemeine Haushaltsführung, persönliche Pflege, Verkehrsauslagen (örtlicher Nahverkehr), Nachrichtenübermittlung, Internet, Radio/TV, Bildung, Freizeit, Sport, Unterhaltung, Übriges. 

Alleinstehende brauchen zur Deckung ihrer Grundbedürfnisse mindestens 1061 Franken pro Monat zuzüglich Wohnkosten und Krankenkassenprämie, eine Familie mit zwei Kindern braucht für diesen Grundbedarf mindestens 2271 Franken pro Monat.

Im Bericht werden neben den finanziellen Verhältnissen, die den Kern der Armutsdefinition bilden, sechs weitere zentrale Lebensbereiche berücksichtigt: Bildung, Erwerbsarbeit, Gesundheit, Wohnen, soziale Beziehungen und politische Teilhabe.

Diese Gruppen sind besonders oft betroffen: Einkommensarm sind vor allem Haushalte mit tiefen Einkommen und vergleichsweise hohen Ausgaben. Wer nicht erwerbstätig ist, ist viel eher betroffen als Personen mit einer Erwerbsarbeit. Familien sind eher arm als Haushalte ohne Kinder: Besonders häufig betroffen sind Alleinerziehende und Familien mit mehr als zwei Kindern. Ebenfalls überdurchschnittlich oft arm sind Alleinlebende, Menschen mit geringer Bildung sowie Ausländerinnen und Ausländer. 

Frau mit zwei kleinen Kindern und einem Einkaufswagen auf einem Parkplatz.
Legende: Viele Familien sind von Armut betroffen, vor allem Alleinerziehende und Familien mit mehr als zwei Kindern. KEYSTONE / Christof Schuerpf (Symbolbild)

Das sind die Auslöser von Armut: Armut wird häufig an Bruchstellen im Leben sichtbar, so schreibt es das Bundesamt für Sozialversicherungen im Bericht. Also zum Beispiel beim Übertritt in die Ausbildung, ins Erwerbsleben oder bei der Pensionierung. Wenn diese Übergänge nicht gelingen, können sie zu Armut führen. Hier kann die Armutsprävention ansetzen, begleiten. Schwieriger wird es bei unvorhersehbaren Lebensereignissen: ein (weiteres) Kind, eine Trennung, eine schwere Krankheit, ein Todesfall oder ein Arbeitsplatzverlust. Die Übergänge und Lebensereignisse sind Risiken, sie treffen aber nicht alle Menschen gleich.

Darum besteht Armut weiter: Zu wenig Geld geht sehr oft mit anderen Formen von Benachteiligungen einher. Die Hälfte der Armutsbetroffenen leidet an einer chronischen Krankheit, viele möchten gerne mehr arbeiten, können es aber nicht und die meisten wohnen in einer zu kleinen und für sie zu teuren Wohnung. Der Bericht des BSV zeigt: «Armut in der Schweiz ist selten dauerhaft – doch sie kehrt häufig zurück.» Das heisst, viele einkommensarme Haushalte schaffen zwar für ein paar Jahre den Weg aus der Armut, verdienen mehr oder haben tiefere Kosten. Nach ein paar Jahren kommt aber der nächste Rückschlag.

Wege aus der Armut: Auf individueller Ebene kann ein neuer Job, eine neue Beziehung oder eine passendere Wohnung schon ein möglicher Schritt aus der Armut sein. Aber auch zusätzliche Mittel vom Staat könnten helfen. Ein Patentrezept gibt es allerdings nicht. Aus struktureller Sicht tut sich aber wenig: Trotz tiefer Arbeitslosigkeit bleibt die Armutsquote stabil. Aline Masé von Caritas Schweiz sagt: «Der Schweiz fehlt eine Armutspolitik.» Es gebe keine systematische, koordinierte Politik, die klare Ziele in Bezug auf Armutsprävention und -bekämpfung setzt. Die geplante Armutsstrategie sei diesbezüglich ein Hoffnungsschimmer.

Die Rolle von Sozialversicherungen und Sozialleistungen

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In der Schweiz ist jede und jeder Einzelne in erster Linie selbst für die soziale Sicherheit zuständig. Aber es gibt ein gut ausgebautes Netz von Sozialversicherungen und Sozialleistungen. Sozialversicherungen versichern Risiken wie Unfall, Krankheit oder Invalidität, Sozialleistungen unterstützen Menschen mit einem spezifischen Bedarf, zum Beispiel wenig Geld. Der Bericht zeigt: Dieses System funktioniert. «Für Personen in der Erwerbsphase und ihre Kinder reduzieren sie die Quote der Einkommensarmut von 16 auf 6 Prozent», schreibt das BSV. Für rund zwei Drittel dieser Reduktion seien die Sozialversicherungen verantwortlich.

Aber: Rund 20 bis 40 Prozent der Personen, die Anspruch auf bedarfsabhängige Sozialleistungen hätten, machen diesen nicht geltend. Die Gründe für diesen Nicht-Bezug von Sozialleistungen sind zum Beispiel fehlende Informationen, Schamgefühle oder zu hohe Hürden beim Stellen eines Antrags.

Diese Datenlücken bleiben bestehen: Analysen zu individuellen Armutsverläufen sind mit den vorhandenen Daten nicht möglich, dazu bräuchte der Bund kantonale Steuerdaten. «Mithilfe der Daten könnte man schauen, welche Armutspolitiken funktionieren und welche weniger und damit von erfolgreicheren Kantonen lernen», sagt Aline Masé. Die Harmonisierung und Verknüpfung der kantonalen Steuerdaten wurde aber von einzelnen Kantonen blockiert.

Echo der Zeit, 26.11.2025, 18 Uhr; wilh

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