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Nora Zukker SRF 3
abspielen. Laufzeit 6 Minuten 49 Sekunden.
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Hoffentlich ist niemand verletzt

Eine Nacht in Jakarta, in der vieles aus dem Ruder läuft, wirft den 30-jährigen Vinzent aus der Bahn: Er ist gezwungen, Stellung zu beziehen. Ein bemerkenswertes Schweizer Debut!


Vinzent, 30, Träumer: Soeben hat er ein Praktikum bei einer Boulevardzeitung abgeschlossen, Zukunftspläne hat er keine konkreten und Entscheidungen überlässt er gerne anderen. Seine Freundin Ava verzweifelt beinahe ob seiner Unentschlossenheit, doch lange kann sie ihm nie böse sein.

Eingeladen zur Hochzeitsfeier eines Freundes auf Bali, strandet Vinzent auf der Hinreise in Indonesiens chaotischer Hauptstadt Jakarta, deren wildem Charme er sofort verfällt. Er lässt sich durch das Nachtleben treiben und landet schließlich mit zwei jungen Indonesierinnen in einem Hotelzimmer.

Nach einer dramatischen Nacht besteht kein Zweifel mehr daran, dass Vinzent sein Leben ändern muss. Doch ob er das rechtzeitig schafft, bleibt fraglich.

Adrian Witschi erzählt mit seltener Präzision und glasklarer Beobachtungsgabe von der Generation um die dreißig. Ein bemerkenswertes Stück Literatur.

Leseprobe

Heute kommen Robin und Mischa zum Brunch. Robin ist Avas Bruder und Mischa ist Robins Sohn. Er ist vier Jahre alt und hat rote Haare. Wir haben sie zu mir in die Wiedingstrasse eingeladen. Ava ist im Badezimmer, der Haartrockner flötet. Ich nehme den Speck aus der Pfanne und lege ihn auf einen flachen Teller, den ich mit einem anderen, leicht gewölbten Teller zudecke. Dann schlage ich die Eier auf und gebe sie in die Pfanne. Bei einem Ei läuft das Eigelb aus, das ist meins. Auf dem Tisch stehen Zopf, Bio-Butter, Engadiner Berghonig, ein Einmachglas Himbeermarmelade, ein Stück Glarner Käse, mittelreifer Gruyere, M-Budget-Camambert, ein kleines Dreieck Ziegenkäse, drei Scheiben Mortadella, Bauernschinken und Fleischkäse, ein Glaskrug mit frisch gepresstem Blutorangensaft, eine Bialetti-Kaffeekanne mittlerer Grösse, eine Mango, daneben ein Messer, Trauben, der Blick, der Tages-Anzeiger, Schokolade, Senf. Es klingelt an der Tür, Ava geht hin, ich schneide mit einer Haaarschneideschere etwas Schnittlauch über Spiegeleier und würze sie mit Pfeffer, Paprika und wenig Salz. (...)

Ava und Mischa spielen auf dem Küchenboden. Mischa hat die Zinken zweier Gabeln so ineinander verkeilt, dass die eine Gabel im rechten Winkel von der anderen absteht. Sieht aus wie ein altes Winkelmessgerät, ist aber eine Gabelpistole. Mischa zielt mit der Waffe auf Ava und macht Schussgeräusche, die wie kleine Explosionen klingen. Ava fasst sich an die Brust, stöhnt und lässt sich langsam nach hinten fallen, bis ihr Kopf vor der Wärmeschublade des Backofens zu liegen kommt. Sie hat die Augen geschlossen und den Mund geöffnet. Die Zunge hängt über ihrem rechten Mundwinkel, und für einen Augenblick stelle ich mir vor, dass Ava tot ist. Wenn Ava tot ist, ist alles tot. Die Wohnung ist tot, der Blutorangensaft, der Kaffee, die Winterabende, die DVDs und das selbst gemachte Popcorn, jedes Lachen und jede Träne. Meine Gedanken sind tot, und die Wörter, die aus meinem Mund kommen, sind nur noch Ton; alle Wörter sind nur noch Ton, nichts hat mehr Inhalt, ich kann das spüren, jetzt in diesem Moment, wo Ava vor der Wärmeschublade liegt, mit dem leblosen Gesicht.

Adrian Witschi: Hoffentlich ist niemand verletzt
Salis Verlag
120 Seiten
ISBN: 978-3-906195-27-8

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