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Belästigt, beschämt, überhört Die Schweizer Armee bleibt für Frauen ein täglicher Kampf

Der Bund will mehr Frauen in die Armee holen. Doch eine Studie zeigt: 94 Prozent der Soldatinnen berichten von Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt. Frauen, die trotzdem dienen, bewegen sich in einem Spannungsfeld aus Pflichtgefühl, Misstrauen und dem Wunsch nach Veränderung.

Leutnant Georgina Mermod steht mitten in der St. Galler Kaserne, im Tarnanzug, die Arme vor der Brust verschränkt. Die 22-Jährige führt ein Team von Männern, ist als Quartiermeister für Logistik, Finanzen und Versorgung zuständig – und damit eine der wenigen Frauen in leitender Funktion. «Wenn man wirklich mehr Frauen in der Armee will, muss endlich mehr geschehen. Bisher tut sich schlicht zu wenig», sagt sie. 

Mermod liebt ihren Dienst, die Tagesstruktur, die Kameradschaft. Und doch erlebt sie täglich, dass die Armee auf Männer ausgerichtet ist: Schutzwesten drücken an der Brust, Uniformen sind zu gross, und selbst im persönlichen Materialset liegt ein Hodenschutz. «Wir bekommen ihn einfach, weil das alle bekommen. Aber brauchen tun wir ihn nicht.» 

Leutnant Georgina Mermod im Wiederholungskurs in St. Gallen 

Oft spürt sie Widerstand. Einige Soldaten nehmen ihre Befehle nicht ernst, andere scherzen über ihre Rolle als Vorgesetzte. «Ich bin gross, das hilft mir. Aber Kolleginnen, die kleiner sind, müssen sich doppelt behaupten», sagt sie.  

Die Politikwissenschaftlerin Stéphanie Monay ordnet ein: Die Armee sei historisch «von Männern für Männer gedacht». Frauen würden gesellschaftlich noch immer eher mit Fürsorge und Sanftheit verbunden, selten als gleichwertige Soldatinnen wahrgenommen. Kein Zufall, dass Frauen in der Schweizer Armee heute lediglich 1.6 Prozent ausmachen – «eine der niedrigsten Quoten Europas».

Wer ist Stéphanie Monay?

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Person hält Vortrag am Rednerpult mit Laptop und Getränk.
Legende: Julie Masson

Stéphanie Monay ist Politikwissenschaftlerin und Forschungsleiterin an der Hochschule für Soziale Arbeit und Gesundheit in Lausanne. Sie untersucht, wie Geschlechterrollen im Militär entstehen und reproduziert werden. In ihrer Dissertation analysierte sie, warum Frauen freiwillig in die Schweizer Armee eintreten und welche Barrieren sie dort antreffen.

Trotzdem bleibt Georgina Mermod im Militär. Sie hat sich dazu verpflichtet, für die nächsten 20 Jahre zu dienen. Nicht, weil sie sich mit der Situation abgefunden hat – sondern weil sie glaubt, dass Veränderung nur von innen heraus möglich ist. «Wir reden immer von Gleichstellung», sagt sie, «aber solange die Strukturen alt bleiben, kommen wir nicht weiter». 

Der Wille ist da, das System nicht 

Der Bund will den Frauenanteil bis 2030 von den derzeitigen 1.6 auf 10 Prozent erhöhen. Zurzeit sind es nur rund 2300 Frauen, die Dienst leisten. 

Frauen in der Armee – Zahlen und Ziele 

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  • Rund 2300 Frauen leisten derzeit Dienst – etwa 1.6 Prozent der Gesamttruppe.
  • Ziel bis 2030: 10 Prozent Frauenanteil.
  • 94 Prozent der Soldatinnen berichten von Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt.

Um mehr Frauen zu gewinnen, organisieren gewisse Kantone Orientierungstage speziell für Frauen. Doch der Ansturm ist nicht gross: In Aarau stehen 13 junge Teilnehmerinnen eines Orientierungstags in einem Schulzimmer. Einige kommen aus der Feuerwehr oder der Pfadi, andere wollen einfach mal reinschnuppern. Eine Offizierin mit dem Rang «Hauptmann» begrüsst sie in militärischem Ton: «Ich mache hier keine Propaganda», sagt sie. «Mein Ziel ist, dass ihr euch informieren könnt, um zu entscheiden, ob ihr euch diesen Weg vorstellen könnt.» 

Gendern im Militär

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Die militärischen Dienstgrade sind gemäss Militärgesetz in der männlichen grammatikalischen Form festgelegt, unabhängig vom Geschlecht der Person, die den Grad trägt.

Für die Bezeichnungen von Funktionen (zum Beispiel Gruppenführerin und Gruppenführer oder Kommandantin und Kommandant) und Gradgruppen (zum Beispiel Offizierinnen und Offiziere) werden hingegen sowohl die weibliche als auch die männliche Form verwendet.

In der direkten Ansprache können Frauen zum Beispiel mit Frau Hauptmann, Frau Wachtmeister angesprochen werden. Der Begriff Soldatin, ebenso wie Rekrutin, hat sich im Sprachgebrauch mittlerweile verbreitet und wird inzwischen auch so verwendet. Auch die Funktionsbezeichnungen wie Panzersoldatin, Infanteristin werden in dieser Form verwendet.

Quelle: Verteidigungsdepartement (VBS)

Beim Rundgang durch die Materialausgabe dürfen die Frauen Ausrüstungsgegenstände in die Hand nehmen. Die Offizierin zeigt eine Unterhose aus der offiziellen Frauenkollektion: «Sehr unbequem, ihr könnt sie gleich wegwerfen», sagt sie mit einem kurzen Lachen. Es ist ein Scherz – und doch symptomatisch. Noch immer ist kaum etwas auf Frauen zugeschnitten.

Frauen passen sich der Armee an – nicht die Armee ihnen.
Autor: Stéphanie Monay Politikwissenschaftlerin

 
Eine Teilnehmerin am Orientierungstag meint: «Ich finde es trotzdem cool, dass Frauen mitmachen können. Aber wenn man dann hört, wie viele schlechte Erfahrungen andere gemacht haben, schreckt das schon ab.» 

Monay bestätigt, dass das Militär nicht wirklich auf Frauen vorbereitet sei: Infrastruktur, Material, Sanitäranlagen – vieles sei auf Männer ausgelegt, was Frauen zu improvisierten Lösungen zwinge. «Es zeigt sich: Frauen passen sich der Armee an – nicht die Armee ihnen.» 

Thema: Sexismus als Alltag

Am Orientierungstag sagt die Kursleiterin auch eines ganz klar: Die Armee habe eine Nulltoleranzpolitik gegenüber Belästigung und Diskriminierung. Alle Fälle dieser Art würden behandelt oder sollen gemeldet werden: «Wenn ihr klar sagt, was für euch nicht geht, macht ihr es euch und euren Kameraden einfacher. Manche brauchen diesen Hinweis, um zu merken, wenn sie zu weit gehen.» 

Laut einer Studie des Verteidigungsdepartements (VBS) erleben 94 Prozent der Soldatinnen eine Form von sexualisierter Gewalt. Dazu zählen anzügliche Sprüche, körperliche Übergriffe oder Belästigungen durch Vorgesetzte. Jede zweite Frau berichtet von sexueller Belästigung. 

Was zählt laut der VBS-Studie zu sexualisierter Gewalt?

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Sexualisierte Gewalt ist der Oberbegriff für jede unerwünschte oder erzwungene Handlung mit einem sexualisierten Bezug. Auch grenzverletzendes Verhalten zählt zu sexualisierter Gewalt. Sexualisierte Gewalt ist verboten und stellt (wie auch Diskriminierung) einen Verstoss gegen die Menschenrechte dar. Das VBS spricht von sexualisierter Gewalt, um deutlich zu machen, dass es nicht um konsensuelle Sexualität geht, sondern um Gewalt, welche in sexualisierter Weise oder mit sexuellen Motiven ausgeübt wird.

Die Armee spricht von einer «Nulltoleranzpolitik». In der Realität aber bleibt das Machtgefälle gross. Politikwissenschaftlerin Monay verweist darauf, dass «sexistische und sexualisierte Gewalt in der Armee sehr präsent» sei – trotz offizieller Nulltoleranz. Die institutionelle Kultur sei nach wie vor machistisch geprägt und sehr widerstandsfähig gegenüber Integrations- und Diversity-Politiken. 

Sexistische und sexualisierte Gewalt ist in der Armee sehr präsent.
Autor: Stéphanie Monay Sozial- und Politikwissenschaftlerin

Lisa (anonym), 23 Jahre alt, bereitete sich auf die Aufnahmeprüfung für die Offiziersschule vor. Sie war ehrgeizig, motiviert – bis ein Vorgesetzter begann, sie zu bedrängen. 

«Er schrieb mir ständig Nachrichten, suchte meine Nähe, brachte mir seine Jacke, wenn mir kalt war», erzählt sie. «Ich dachte zuerst, er wolle mir helfen. Dann wurde es immer persönlicher.» 

Der Mann war deutlich älter und ranghöher. Er tauchte bei Übungen auf, wo er gar nicht hätte sein sollen, erzählt Lisa: «Irgendwann hat er mich in einem Treppenhaus aufgesucht und umarmt. Ich war wie gelähmt. Danach habe ich geweint und gewusst: Ich muss das melden.»

Nulltoleranz im Alltag

Lisa tat es – und hoffte auf Konsequenzen. Doch der Vorgesetzte blieb an der Schule. Im Protokoll des Gesprächs mit dem höchsten Kommandanten der Schule heisst es, der Fall sei «nicht als sexuelle Belästigung eingestuft» worden. 

Gesprächsprotokoll mit  Falleinstufung
Legende: Im Gesprächsprotokoll von Lisa steht: Der Fall von Lisa (anonym) wird nicht als sexuelle Belästigung eingestuft. SRF

«Ich fühlte mich verraten», sagt sie. «Ich hatte den Mut, etwas zu sagen – und trotzdem passiert nichts.» Heute bereut sie, keine rechtlichen Schritte eingeleitet zu haben. «Solange er dort ist, kann ich das nicht vergessen. Ich habe Angst, dass anderen Frauen das Gleiche passiert.» 

Das Militär und die Gleichstellung

Die Armee verspricht Reformen: mehr Frauenförderung, bessere Ausbildung, Sensibilisierung. Doch viele Soldatinnen sagen, das reiche nicht. 

«Man kann nicht gleichzeitig mehr Frauen wollen und alles so lassen, wie es ist», sagt Leutnant Georgina Mermod. «Nur weil man etwas 50 Jahre so gemacht hat, heisst das nicht, dass es die nächsten 50 Jahre so bleiben muss.» Sie glaubt, dass Veränderung vor allem von den Jüngeren kommen muss. 

Auch politisch fehlt derzeit Rückenwind. Die Service-citoyen-Initiative, die einen allgemeinen Bürgerdienst für Frauen und Männer gefordert hat, wurde im November mit 84 Prozent abgelehnt. Stéphanie Monay sagt: «Das zeigt, dass die Idee einer obligatorischen Dienstpflicht für Frauen heute noch keine politische Unterstützung hat.» Zwar werde der Vorschlag zunehmend diskutiert, doch nach einer so deutlichen Ablehnung sei kaum vorstellbar, dass die Politik ihn nun aktiv vorantreibe. 

Es bleibt abzuwarten, wie sich die Frage in der Schweiz entwickelt.
Autor: Georgina Mermod Leutnant

Langfristig jedoch hält die Politik- und Sozialwissenschaftlerin Veränderungen nicht für ausgeschlossen. In Europa kehren Länder wie Frankreich und Deutschland zur Dienstpflicht zurück, andere – wie Dänemark – weiten sie bereits auf Frauen aus. «Es bleibt abzuwarten, wie sich die Frage in der Schweiz unter diesem internationalen Trend entwickelt.»

Spiegel einer Gesellschaft 

Das Militär zeigt, was auch ausserhalb der Kasernen gilt: Gleichstellung bleibt fragil, solange Macht ungleich verteilt ist. 

Frauen wie Georgina Mermod und Lisa machen sichtbar, was sonst verborgen bleibt – in einer Institution, die sich wandelt, aber noch immer von alten Mustern geprägt ist. «Die Arbeiten der Militärsoziologie zeigen deutlich, wie resistent militärische Kulturen gegenüber Vielfalt sind», sagt Wissenschaftlerin Monay. Veränderung dauere – und beginne selten von oben. 

Radio SRF 3, Input, 7.12.2025, 20 Uhr; sten

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