Hochbegabte Kinder faszinieren und polarisieren. Dabei sind sie gar nicht so selten: Rund zwei Prozent der Bevölkerung weisen einen Intelligenz-Quotienten ab 130 Punkten auf.
Bei 950'000 Kindern und Jugendlichen, die in der Schweiz eine Schule besuchen, macht das rund 19'000 Hochbegabte. Heute weiss man jedoch, dass diese Grenze von IQ 130 fliessend ist und in der Realität etwa 15 Prozent der Schulkinder an Unterforderung leiden.
Den Klassenkameraden weit voraus
Intellektuelle Hochbegabung zeigt sich in einem hohen IQ und stark ausgeprägtem Potenzial für Informationsverarbeitung, Lernen und Wissensaneignung, abstraktes Denken sowie Problemlösen. Das heisst: Hochbegabte sind ihren Klassenkameraden um Jahre voraus, was die kognitive Entwicklung angeht.
Ein überdurchschnittlich hoher IQ wird grösstenteils vererbt, ein förderndes familiäres Umfeld kann diesen zusätzlich begünstigen. Eine Hochbegabung muss sich indes nicht zwingend in hoher Leistung manifestieren. Denn damit hochbegabte Kinder ihr Potenzial entfalten können, bedarf es gezielter Förderung. Doch nicht immer werden Hochbegabte adäquat gefördert, oftmals werden sie erst gar nicht erkannt.
Unterforderung bedeutet Stress
Eine nicht erkannte Hochbegabung ist nicht selten mit grossem Leiden bei den Kindern und deren Familien verbunden. «Unterforderung ist Gift für ein Kind und kann – genau wie Überforderung – extrem viel Stress auslösen», sagt Joëlle Huser, Spezialistin für Begabtenförderung und Coach.
Unterforderung ist Gift für ein Kind.
Psychosomatische Beschwerden wie Bauchschmerzen, Verhaltensauffälligkeiten, depressive Verstimmungen bis hin zu Selbstmordgedanken können als Folge ständiger Unterforderung auftreten. Dabei ziehen sich unterforderte Mädchen tendenziell zurück, während unterforderte Jungen oftmals laut und aggressiv werden.
Skepsis gegenüber Förderung
«Wir reden in der Schweiz vom goldenen Mittelweg, nicht vom goldenen Höhenweg», sagt Joëlle Huser. Dies sage einiges über die hiesige Mentalität aus, deren Credo «Ja nicht auffallen!» laute.
Wir reden in der Schweiz vom goldenen Mittelweg, nicht vom goldenen Höhenweg.
Dies sei mit ein Grund dafür, warum den Ressourcen von intellektuell begabten Kindern und Erwachsenen in unserem Land zu wenig Beachtung geschenkt werde. Ausserdem herrsche die Meinung vor, eine hohe Begabung setze sich ohnehin durch.
Dem sei aber nicht so: «Hochbegabte ticken anders, sie haben andere Bedürfnisse. Und auch sie haben das Recht, adäquat gefördert und nicht nur erkannt, sondern anerkannt zu werden», sagt Huser.
Volksinitiative wird lanciert
Genau hier setzt der «Verein für Bildungsgerechtigkeit» an. Mit einer Volksinitiative soll durchgesetzt werden, dass Kinder und Jugendliche mit hohem kognitivem Potenzial (ab IQ 125) in den öffentlichen Schulen während ihrer gesamten Schulzeit ihren Fähigkeiten entsprechend unterrichtet werden.
«In der Bundesverfassung (Art. 62 Ziffer 3) ist dies für Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen und Behinderungen bereits festgelegt. Neu soll ein entsprechender Satz für Kinder und Jugendliche mit hohem kognitiven Potenzial dazukommen», schreibt der «Verein für Bildungsgerechtigkeit», auf seiner Homepage.
Elisabeth Zollinger, Leiterin des Schweizerischen Instituts für Hochbegabung und Mitglied des Initiativkomitees, rechnet damit, dass ungefähr in einem halben Jahr der Startschuss für die Unterschriftensammlung fallen sollte.
Diese Kinder wollen ihre Gedanken galoppieren lassen.
Die Zeit dränge, denn die Situation für hochbegabte Kinder und Jugendliche sei an den öffentlichen Schulen alles andere als einfach: «Genauso wenig, wie ein Rennpferd immer nur im Schritt gehen wolle, möchten diese Kinder und Jugendlichen in ihrem Denken gebremst werden. Sie wollen ihre Gedanken galoppieren lassen», fasst Zollinger die heutige Situation zusammen.
Leiden in der Volksschule
Wie ein Rennpferd im Schritt fühlte sich auch Michelle Jacober (10) in ihrer Zeit an der Volksschule, die kurz und belastend war: Obwohl sie keine Hausaufgaben machte, waren ihre Leistungen überragend. Von ihren Klassenkameraden aber wurde Michelle gemobbt und als Streberin bezeichnet. Ihr sonniges Gemüt verfinsterte sich zusehends, Michelle zog sich zurück und schwänzte immer häufiger die Schule.
Erst eine Abklärung und die Diagnose «Hochbegabung» sowie der anschliessende Schulwechsel an die Zürcher «Talenta» brachten Linderung. Heute kann Michelle wieder lachen: «Es ist für die soziale und emotionale Entwicklung hochbegabter Kinder enorm wichtig, dass sie immer wieder mit ähnlich denkenden und fühlenden Kindern zusammensein können. Erst so merken sie, dass sie keine Aussenseiter sind», sagt Joëlle Huser.
Etikett «hochbegabt»
Diese Erfahrung machte auch Bomi Song: «Ich fühlte mich immer als eine Extrawurst.» Bomi denkt mit gemischten Gefühlen an die Etikettierungen zurück, mit denen man sie früher versehen hat.
Die heute 25-Jährige erstaunte Fachleute mit ihrer Virtuosität an der Geige und Lehrer mit ihrer raschen Auffassungsgabe. Drei Schuljahre übersprang sie, bevor sie mit 16 an der Zürcher Kantonsschule für Kunst und Sport die Matura machte. Kurze Zeit später wagte sie, gerade 17 Jahre alt, ganz allein den Schritt an die Universität nach Berlin.
Ich habe oft extra langsamer gemacht.
Auch Hani, die jüngere der zwei Song-Schwestern, fühlte sich unwohl mit ihren Talenten. «Ich habe oft extra langsamer gemacht oder versteckt, dass ich schneller oder besser war, als die anderen in meiner Klasse», erzählt Hani. Sie habe nicht als Streberin gelten wollen und wäre am liebsten wie alle anderen gewesen.
Maximilian Janisch – höchstbegabt
Als hochbegabt gilt, wer einen Intelligenzquotienten von ab 130 aufweist. Die durchschnittliche Intelligenz (68 Prozent der Bevölkerung) liegt bei IQ-Werten zwischen 85 und 115.
Maximilian Janischs IQ liegt bei 149+. Eine derartige Höchstbegabung ist sehr selten und zeigt sich bei einer von 100'000 Personen. Maximilian (16) und seine Eltern stören sich daran, dass in der Schweiz zwar genügend Institutionen für Hochbegabte in den Bereichen Sport, Musik und Gestaltung existierten.
Schulen für Kinder mit hohen Begabungen in den MINT-Fächern indes fehlten. «Die Schweiz kann es sich schlicht nicht leisten, mathematisch-naturwissenschaftlich hochbegabte Kinder und Jugendliche nicht angemessen zu fördern», davon sind Vater Thomas Drisch und Sohn Maximilian überzeugt.
Thierry Bouvard malt – besondere Begabung
Auch Thierry Bouvard (19) hat eine ganz besondere Begabung, die von seinem Umfeld gefördert wurde: Als Thierry ein Jahr alt war, verstummte er.
Zwei lange Jahre später erhielten seine Eltern die niederschmetternde Diagnose: frühkindlicher Autismus. «Das hat uns wie eine Bombe getroffen», sagen Thierrys Eltern, André und Joan Bouvard.
Sie nahmen seine Therapie selber in die Hand, vernetzten sich mit anderen Betroffenen und halfen Thierry, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Obwohl Thierry nicht sprechen kann, hat er eine Möglichkeit gefunden, wie er sich ausdrücken kann: Thierry malt Bilder von berückender Schönheit.
Hochbegabte Erwachsene
Wie gehen Hochbegabte als Erwachsene durchs Leben? Schaffen es die meisten, ihre Begabung zu entfalten? Wie wirkt die schwierige Zeit in der Volksschule nach? Ein Interview mit Joëlle Huser, die als Coach hochbegabte Kindern und Erwachsene begleitet.
SRF: Wird aus jedem hochbegabten Kind ein hochbegabter Erwachsener?
Joëlle Huser: Zuerst einmal dies – ich etikettiere kein Kind mit dem Begriff «hochbegabt». Denn man weiss aus der Forschung, dass viele Kinder, die man so bezeichnet, sich zurücklehnen und nichts mehr leisten.
Und gleichzeitig schürt man in ihnen eine Angst: Sie wagen es nur noch, perfekte Dinge zu äussern, weil sie sonst ihr Etikett Lügen strafen würden. Mit dieser Bezeichnung wird oft ihre Anstrengungsbereitschaft reduziert. Und um diese geht es schliesslich bei jedem Menschen, ganz unabhängig von seiner Begabung. Es geht darum, durch Anstrengungsbereitschaft sein eigenes Potenzial zu entfalten.
Muss ein Kind sich zurücknehmen, weil es Neid erntet?
Zu Ihrer Frage: Grundsätzlich ist es so, dass Intelligenz und Begabung dynamisch sind. Es kommt immer darauf an, wie sich die Umgebung des Betroffenen gestaltet: Was wird dem Kind angeboten? Wie kann es seine Interessen entwickeln? Muss es sich zurücknehmen, weil es Neid erntet? Hat es überhaupt eine Möglichkeit, sein hohes Potenzial auszuleben?
Die Umgebung ist massgeblich dafür verantwortlich, wie ein Mensch sein Potenzial entfalten kann. Wenn Kinder mit hoher Begabung von wohlwollenden Menschen umgeben sind, die sie fördern, dann blühen sie auf.
Wenn begabte Kinder oder Erwachsene aber merken, dass Neid im Raum ist, dann kann es sein, dass sie ihr Potenzial zurücknehmen und gar nicht mehr zeigen, was sie können. Diese Menschen nennt man in der Fachsprache «Minderleistende». Das heisst, diese Kinder und Erwachsenen haben zwar ein hohes Potenzial, sind aber nicht in der Lage, dieses in Leistung umzusetzen.
Wie kann sich die Hochbegabung von geförderten Kindern im Erwachsenenalter zeigen?
Bei den Erwachsenen ist es oft so, dass sie beruflich in hohe Positionen gelangen. Ich habe einige Professorinnen und Führungskräfte in meiner Kundschaft aber auch Angestellte in unterschiedlichsten Berufsgruppen.
Diese sind es sich gewohnt, Dinge sehr schnell zu erfassen. Probleme gibt es dann, wenn die Mitarbeitenden mehr Zeit brauchen, bis sie das Wesentliche erkannt haben. Die meisten Erwachsenen suchen mich aber nicht auf, weil sie denken, sie seien hochbegabt.
Viele Eltern haben ein Déjà-vu.
Der Normalfall gestaltet sich eher so: Ich stelle bei einem Kind ein hohes Potenzial fest. Dann haben viele Eltern ein Déjà-vu: Sie merken, dass sie ebenfalls eine grosse kognitive Begabung haben, aber dies bis ins Erwachsenenalter gar nie realisiert haben. Auf einmal bekommt ihr Lebenspuzzle mehr Konturen und sie fangen an, sich selber besser zu verstehen.
Was ist bei hochbegabten Kindern ausserdem noch anders?
Die hohen Ansprüche von Begabten an sich selber können sehr hinderlich sein. Wenn sich Kinder mit hohem Potenzial ständig in asymmetrischen Beziehungen zu anderen Kindern befinden – sie begreifen und lernen viel schneller als ihre Klassenkameraden –, dann entwickeln sie häufig einen ungesunden Perfektionismus.
Dieser ungesunde Perfektionismus ist eines der Themen, das ich mit Erwachsenen und Kindern sehr häufig bearbeite.
Dieser führt dazu, dass sie – wenn sie nicht felsenfest von der Richtigkeit ihrer Aussage überzeugt sind – lieber schweigen als das Risiko eingehen, etwas Falsches zu sagen. Dieser ungesunde Perfektionismus ist eines der Themen, das ich mit meinen Klienten – Erwachsenen und Kindern – sehr häufig bearbeite. Es ist die Angst vor Fehlern, diese Angst, nicht zu genügen, sich selber und anderen.
Scheitern ist menschlich, ohne Scheitern kommt man nicht weiter im Leben.
Die hohen Erwartungen an sich selber, immer nur das Allerbeste von sich zu geben, prägt viele Menschen mit hohem Potenzial. Diese Angst kann sogar dazu führen, dass sie wegen Versagensängsten gar nichts Herausforderndes mehr anpacken. Das Selbstwertgefühl kann dann tief in den Keller fallen. Die Freude am Ausprobieren bleibt so oft auf der Strecke. Gemeinsam suchen wir dann nach Wegen zum «heiteren Scheitern». Denn Scheitern ist menschlich, ohne Scheitern kommt man nicht weiter im Leben. Denn nur wenn wir Fehler machen, können wir sehen, wo es für uns noch etwas zu lernen gibt!
Hochbegabte Kinder werden also nicht unbedingt glückliche Erwachsene?
Das kann man so nicht sagen! Es ist klar, in meiner Praxis und in den Coachings sehe ich vor allem Menschen, die Schwierigkeiten mit ihrem hohen Potenzial haben. Aber es gibt Langzeitstudien, die beweisen, dass begabte Menschen häufig glücklicher sind im Leben als Normalbegabte.
Ein hohes Potenzial birgt aber auch wahnsinnig viele Chancen!
Man muss aufpassen – es wird oft auf das Leiden an der hohen Begabung fokussiert. Ein hohes Potenzial birgt aber auch wahnsinnig viele Chancen! Menschen mit hohem Potenzial schaffen es, viele spannende Dinge gleichzeitig zu tun.
Neben dem anspruchsvollen Beruf haben sie oftmals herausfordernde Hobbys, machen beispielsweise Musik oder Sport auf sehr hohem Niveau. Da sie ausserdem häufig sehr hohe ethische Ziele und Ansprüche haben und alles, was sie anpacken auch zu einem guten Ende führen wollen, bergen solche Biographien bisweilen allerdings tatsächlich die Gefahr des Ausbrennens. In diesem Fall geht es darum, in all diesen Lebensbereichen Prioritäten zu setzen.
Wie blicken Hochbegabte auf ihre Kindheit zurück?
Die meisten sind froh und dankbar, dass ihre Begabung entdeckt wurde und sie bspw. Klassen überspringen durften – eine grosse Erlösung nach dem Leiden an der Unterforderung. Als besonders hilfreich empfinden sie die Vernetzung mit anderen Betroffenen: So können sie die Erfahrung machen, dass sie nicht die «Aliens» sind, als die sie sich immer gefühlt haben.
Das Interview führte Helen Arnet.