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SRF DOK Grenzgänger: «Sie verdienen mehr, aber zu einem hohen Preis.»

Der Westschweizer Filmautor Marc Wolfensberger hat während mehrerer Monate französische Grenzgänger auf ihrer täglichen Reise über den Genfersee begleitet. Seit der Masseneinwanderungs-Initiative und der Abschaffung des Euro-Mindestkurses weht Grenzgängern in der Romandie ein rauer Wind entgegen.

Zur Person

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Dokumentarfilmer Marc Wolfensberger (*1971 in Lausanne) studierte in St. Gallen Wirtschaft und Soziologie. Er arbeitete als Reporter in Zentralasien und im Kaukasus, 2008 gründete er seine eigene Filmproduktionsfirma.

Christa Ulli: Marc Wolfensberger, Sie selbst leben in der Romandie – haben Sie französische Grenzgänger in Ihrem Freundeskreis?

Marc Wolfensberger: Es ist schwierig, echte Freundschaften mit Grenzgängern zu haben, da sie ja ständig unterwegs sind. Im Unterschied zu Franzosen, die in der Schweiz leben, gehen die Grenzgänger am Abend nach Hause, sie integrieren sich nicht bei uns. Man läuft ihnen also jeden Tag über den Weg, bei der Arbeit, aber man lernt sie nicht kennen. Und genau das hat mich für meinen Film interessiert: Ich wollte ihnen ein Gesicht geben, ich wollte sie begleiten, von der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang.

Warum haben Sie das Thema Grenzgänger für Ihren Dokumentarfilm gewählt?

Die Idee kam mir am 10. Februar 2014, am Tag nach der Abstimmung zur Masseneinwanderungs-Initiative. Ganz nah an meinem Wohnort fährt die Fähre 26-mal am Tag von Lausanne nach Evian. Ich habe mich gefragt, welche Auswirkungen die Abstimmung für diese «nahen Ausländer» wohl hat? Haben die Schweizer überhaupt begriffen, dass sie mit dem Abstimmungsergebnis auch diese Arbeitskräfte getroffen haben?

Die Fähre ist für die meisten Romands ein unbekanntes Universum.

Ich selbst hatte bis dahin dieses Schiff noch nie genommen, wahrscheinlich wie die meisten Romands nicht. Es war für mich ein unbekanntes Universum, aber ein unglaublich schönes Bühnenbild für meinen Film. Es hatte auch etwas von einem «Beichtstuhl», denn während der 35 Minuten Überfahrt begannen die Leute zu diskutieren, sich einander anzuvertrauen. Wenn eine Kamera dabei ist, ist das natürlich etwas schwieriger. Aber ich habe sie ein paar Mal mitgenommen, um die Protagonisten für meinen Film zu finden. Es ist eine faszinierende Welt, so nah, aber so verkannt!

Grenzgänger sind häufig kompetenter.

In der Deutschweiz sind die Deutschen das Thema, im Tessin die Italiener. Es heisst, sie nehmen Wohnungen und Jobs weg und sie verstopfen mit ihren Autos die Strassen. In Ihrem Film kommen die Grenzgänger per Schiff in die Schweiz, sie haben in den letzten Jahren zu einer Verzehnfachung der Pendlerströme geführt. Was denken Sie, sind die Diskussionen in der Bevölkerung in Kreuzlingen, Lugano oder Genf überall etwa gleich?

Ja, ich glaube, die Vorwürfe sind überall dieselben. Es gibt viele Studien, die belegen, dass die Grenzgänger nicht zum Lohndumping beitragen. Aber diese Information setzt sich bei den Gegnern nicht durch. Für mich sind die wichtigen Fragen: «Wieso arbeiten zum Beispiel in der Hotellerie praktisch nur Grenzgänger?» Fragen Sie irgendeinen Hotelier – er findet keinen Schweizer, der für einen so niedrigen Lohn arbeiten würde. Ist das die Schuld der Grenzgänger oder die der Branche? Dasselbe Problem finden Sie in den Spitälern. Und dort gibt es zusätzlich noch ein Problem mit der Ausbildung. Die Schweiz weigert sich, es zuzugeben, aber sie ist da im Rückstand. Und bei gleichen Löhnen sind die Grenzgänger häufig kompetenter.

Ein besserer Verdienst in der Schweiz, aber zu welchem Preis?

Sie haben lange an diesem Dokumentarfilm gearbeitet. Hat diese Arbeit Ihre Einstellung Grenzgängern gegenüber verändert?

Ganz klar, ja. Ich hatte vorher keine richtige Meinung zu Grenzgängern, weder positiv noch negativ. Ich wollte einfach nur verstehen, wie ihr Leben aussieht. Ich bedauere sie nicht – es ist ihre Wahl, in der Schweiz zu arbeiten, es ist eine Möglichkeit für einen sozialen Aufstieg – aber zu welchem Preis?

Es gibt nur wenige Franzosen, vor allem aus dem Süden und dem Norden Frankreichs, die wirklich realisieren, was das bedeutet. Isabelle, die Kellnerin, bringt ihren Sohn jeden Morgen um 5.15 Uhr in eine private Krippe, um die Fähre um 5.40 Uhr zu erwischen. Alexandre, der Coiffeur, verlässt sein Haus um 6.30 Uhr und kommt erst gegen 20 Uhr nach Hause, sechs Tage pro Woche. Sie verdienen mehr, aber sie zahlen einen hohen Preis dafür!

Video
Lucien Fortier schätzt die Arbeitsbedingungen in der Schweiz.
Aus DOK vom 08.04.2015.
abspielen. Laufzeit 2 Minuten 1 Sekunde.

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