Zum Inhalt springen

Header

Video
Selbsternannter «Heiler» missbraucht Patientin
Aus Kassensturz vom 31.10.2023.
abspielen. Laufzeit 13 Minuten 32 Sekunden.
Inhalt

Chronik eines Justizskandals Wie ein Sexualstraftäter trotz Verfahren wieder zuschlagen konnte

Nicole B. wird von einem selbsternannten Heiler missbraucht. Der Fall bleibt aber liegen – mit verheerenden Folgen.

Nicole B. besucht am Karfreitag 2012 den selbsternannten Heiler F., damit er ihre chronischen Schmerzen behandeln kann. Er ist ihre letzte Hoffnung. Laut den Gerichtsakten führt er Nicole B. um 18:30 Uhr in sein Therapiezimmer in Näfels.

Zu diesem Zeitpunkt glaubt Nicole B. noch, dass der Mann ihre chronischen Schmerzen tatsächlich lindern kann. Sie vertraut ihm, denn schliesslich war es ihre Freundin, die den Kontakt zum vermeintlichen Heiler in Glarus hergestellt hatte. «Ich kannte ihn und habe nie etwas Schlechtes über ihn gehört», erklärt die Freundin von Nicole B. im Gespräch mit «Kassensturz».

Doch was der Mann am Karfreitag 2012 mit Nicole B. vorhat, ist ein geplanter, brutaler Missbrauch.

Nicole B. erinnert sich: «An den Wänden hingen mehrere Kruzifixe. Das gab mir eine gewisse Sicherheit, ein gutes Gefühl. Ich nahm dann auf der Couch Platz. Der Heiler F. erklärte mir, dass ich nun etwas trinken müsse, denn die Behandlung würde längere Zeit dauern.»

Gezeichnete Skizze eines Tatorts
Legende: Tatortskizze Nicole B. machte eine Skizze des Tatorts. SRF

Der Mann überreicht Nicole B. einen Becher, bereits gefüllt mit einem Multivitaminsaft. Was sie nicht weiss: Der Saft enthält ein Schlafmittel, das der Täter vor dem Treffen in den Saft mischte. Er will sein Opfer sedieren. Nicole B. nippt zuerst nur daran, dann sagt der selbsternannte Heiler, dass sie den Becher leer trinken soll, was Nicole B. dann auch tut. Kurz darauf begibt sie sich auf die Therapieliege.

Video
Nicole B.: «Ich konnte mich nicht mehr bewegen»
Aus Kassensturz vom 30.10.2023.
abspielen. Laufzeit 25 Sekunden.

Der Täter sediert sein Opfer

«Er begann meine Schultern zu massieren, er schwatzte ununterbrochen, bis mir die Augen zufielen. Ich konnte mich nicht mehr bewegen, nicht schreien, ich war bei vollem Bewusstsein.» Doch der Täter meint, sie sei bewusstlos und beginnt, sein wehrloses Opfer zu missbrauchen.

«Ich habe wirklich alles, und das ist das Grausamste, miterlebt. Ich lag auf dem Schragen, er drehte mich zur Seite, verging sich an mir, von hinten und von vorne, mit Gegenständen, grob und grausam, ich lag da und wollte nur noch sterben, einfach nur sterben.»

Video
Nicole B.: «Ich wollte nur noch sterben»
Aus Kassensturz vom 30.10.2023.
abspielen. Laufzeit 27 Sekunden.

Der Missbrauch dauert laut Nicole B. über eine Stunde. Schockiert und voller Angst kann sie sich danach wieder von der Liege heben und wird kurz darauf von ihrer Freundin abgeholt.

Nicole B. findet die Kraft, ihren Peiniger 2012 anzuzeigen. Drei Monate später nimmt die Polizei den Mann fest und führt eine Hausdurchsuchung bei ihm durch.

Heiler recherchierte «Ko Tropfen» und «Narkotikum»

Das Durchsuchungsprotokoll liegt «Kassensturz» vor: Die Polizei findet mehrere Packungen rezeptpflichtiger Psychopharmaka, die sedierend wirken. Und sie beschlagnahmt sein Mobiltelefon. Die Ermittlungen zeigen: Bei seiner Google-Recherche auf dem Handy suchte er wenige Wochen vor dem Termin mit Nicole B. nach «Ko Tropfen», «Narkotikum» und sedierenden Medikamenten.

Der Beschuldigte kommt für ein paar Tage in Untersuchungshaft, dann ruft plötzlich die fallführende Staatsanwältin Nicole B. an. «Sie sagte mir, dass es ihr leidtun würde, aber der Mann sei wieder auf freiem Fuss, doch sie gehe davon aus, dass er bald wieder in Haft sei, denn es sei soeben eine weitere Anzeige gegen ihn eingegangen, von einem Kind.»

Die Anzeige reicht 2012 seine frühere Stieftochter ein. Auch sie missbrauchte er, jeweils nachts, nachdem er ihr ein Schlafmittel verabreicht hatte, das zeigen die Gerichtsakten. Sie war damals 13 Jahre alt.

«Kassensturz» ist an Ihrer Meinung interessiert

Box aufklappen Box zuklappen

Staatsanwalt lässt den Fall liegen

Die Staatsanwaltschaft Glarus eröffnet 2012 ein Strafverfahren gegen den Beschuldigten. Ende 2013 gibt die fallführende Staatsanwältin den Fall aus nicht bekannten Gründen ab – an Staatsanwalt Willi Berchten.

Der vermeintliche Heiler kann derweil weiterhin seine sogenannten Therapien in Näfels anbieten, als wäre nichts geschehen. Drei Jahre vergehen, ohne dass Willi Berchten Anklage erhebt. Mit fatalen Folgen: 2015 schlägt der selbsternannte Heiler wieder zu. Er empfängt ein 17-jähriges Mädchen zu einer Behandlung. Zuerst verabreicht er ihr ein Getränk, versetzt mit Schlafmittel, dann folgt der Missbrauch.

Als Nicole B. vom erneuten Missbrauchsfall erfährt, hat sie grosse Schuldgefühle: «Ich fühlte mich schuldig, dass er ein weiteres Opfer missbrauchen konnte, weil in all den Jahren nichts passiert ist.»

Video
Nicole B.: «Ich hatte grosse Schuldgefühle»
Aus Kassensturz vom 30.10.2023.
abspielen. Laufzeit 15 Sekunden.

Auch nach dem dritten Opfer bleibt der Täter auf freiem Fuss. Es vergeht ein weiteres Jahr, ohne dass der zuständige Staatsanwalt Anklage erhebt. Für die Opferanwältinnen unhaltbar. Sie reichen gegen Staatsanwalt Willi Berchten Beschwerde wegen Rechtsverweigerung ein: es sei festzustellen, dass «vorliegend das Beschleunigungsgebot verletzt ist und Anklage bis spätestens Ende April 2017 zu erheben ist».

Staatsanwalt verletzt das Beschleunigungsgebot

Dann endlich erhebt der Staatsanwalt Anklage, sage und schreibe fünf Jahre nach Nicole B.s Anzeige. Das Obergericht Glarus kritisiert später die zu lange Dauer des Strafverfahrens und hält fest: «Das Beschleunigungsgebot ist vorliegend in allen Verfahrensabschnitten verletzt.»

«Fünf Jahre für ein Verfahren, das ist jenseits»

Beatrice Müller war eine der Anwältinnen, die Nicole B. vertraten. Sie kritisiert die Länge des Verfahrens: «Fünf Jahre für eine Strafuntersuchung, bis es zur Anklage kommt, das ist jenseits, indiskutabel. Das Verfahren blieb bei der Staatsanwaltschaft zwei bis drei Jahre komplett liegen.»

Ein weiterer Grund seien die Opferbefragungen: «Diese sind umfangreich und benötigen viel Logistik. Es braucht zum Beispiel separate Räume für Opfer und Täter, das ist nicht immer einfach zu koordinieren bei mehreren Opfern.»

Video
Beatrice Müller, Anwältin: «Niemand hat sich um das Verfahren gekümmert»
Aus Kassensturz vom 30.10.2023.
abspielen. Laufzeit 39 Sekunden.

2018 kommt es endlich zum Prozess. Vor dem Kantonsgericht Glarus streitet der Beschuldigte jedoch alles ab und stellt die Opfer als Lügnerinnen dar, wie bereits in seinen Befragungen vor dem Prozess. Nicole B. habe er nur den Zehen gehalten, um die Energie herauszuziehen. Im Zimmer seiner damaligen Stieftochter habe er nur Räucherstäbchen verwendet, um schlechte Energie auszutreiben. Doch das Glarner Gericht verurteilt ihn.

Gerichtsurteil
Legende: Das Urteil Das Gericht glaubt den Opfern und verurteilt den Täter. SRF

Er zieht den Fall bis vor das Bundesgericht, ohne Erfolg. Er wird 2021 schuldig gesprochen wegen mehrfacher sexueller Nötigung, mehrfacher sexuellen Handlungen mit Kindern und einfacher Körperverletzung.

Warum nur 27 Monate Freiheitstrafe?

Box aufklappen Box zuklappen

Das Obergericht des Kantons Glarus kam in seiner Strafzumessung für den Sexualstraftäter eigentlich auf 43 Monate. Doch das Obergericht konnte die Strafe nicht mehr erhöhen, weil das Kantonsgericht als erste Instanz eine tiefe Strafe ausgesprochen hatte und diese von der Staatsanwaltschaft Glarus nicht angefochten wurde. Deshalb war eine Verschärfung der Strafe nicht mehr möglich.

Kanton kürzt Genugtuung für Nicole B. massiv

Er kassiert jedoch ein mildes Urteil: 27 Monate Freiheitsstrafe und ein Berufsverbot für Heilbehandlungen. Das Gericht spricht Nicole B. eine Genugtuung von 12'000 Franken plus Zinsen zu. Doch weil der Täter kein Geld hat, muss der Kanton für die Genugtuung aufkommen. Glarus will aber nur 7500 Franken bezahlen, denn der Kanton sei nicht verpflichtet, die gesamte Genugtuung zu bezahlen.

Video
Beatrice Müller, Anwältin: «Diese Kürzung können die Opfer nicht nachvollziehen»
Aus Kassensturz vom 30.10.2023.
abspielen. Laufzeit 24 Sekunden.

Für Anwältin Beatrice Müller völlig inakzeptabel: «Das führt zu einer erneuten sekundären Viktimisierung, weil das Opfer diese Kürzung nicht nachvollziehen kann. Und seien wir realistisch: Der Kanton Glarus wäre nicht bankrottgegangen, wenn er die ganze Genugtuung ausbezahlt hätte.»

Bezüglich der Höhe der (…) Genugtuung ist die Opferhilfebehörde grundsätzlich nicht an den Entscheid des Strafgerichts gebunden.
Autor: Marianne Lienhard Glarner Regierungsrätin

Die zuständige Glarner Regierungsrätin Marianne Lienhard will zum Fall kein Interview geben und schreibt «Kassensturz», dass sich der Kanton an die gesetzlichen Grundlagen für einen solchen Fall gehalten habe: «Bezüglich der Höhe der (…) Genugtuung ist die Opferhilfebehörde grundsätzlich nicht an den Entscheid des Strafgerichts gebunden. Die Bemessung der opferhilferechtlichen Genugtuung erfolgt vielmehr selbständig.» Zudem sei der Entscheid anfechtbar.

Beatrice Müller akzeptierte den Entscheid nicht und zog den Fall vor das Verwaltungsgericht, mit etwas Erfolg. Schliesslich wurde Nicole B. eine Genugtuung von 9000 Franken zugesprochen.

Hohes Rückfallrisiko

Bemerkenswert: der verurteilte Sexualstraftäter ist bereits wieder in Freiheit. Geht von ihm ein Rückfallrisiko aus? «Kassensturz» bespricht den Fall anhand von Gerichtsakten mit dem renommierten Gerichtspsychiater Frank Urbaniok.

Video
Frank Urbaniok: «Man muss von einem hohen Rückfallrisiko ausgehen»
Aus Kassensturz vom 30.10.2023.
abspielen. Laufzeit 21 Sekunden.

Frank Urbaniok sagt: «Der Täter setzte ein Schlafmittel ein, er ist nicht geständig, er wurde während dem Strafverfahren rückfällig und er missbrauchte mehrere Opfer. Das sind eine Fülle von Merkmalen, die darauf hinweisen, dass sein Vorgehen eng mit seiner Persönlichkeit verbunden ist. Dementsprechend muss man von einem hohen Rückfallrisiko ausgehen.»

Lehren gezogen

Der damals fallführende Staatsanwalt Willi Berchten wurde 2018 pensioniert und will sich zum Fall nicht äussern. Auch der zuständige Regierungsrat Andrea Bettiga will kein Interview geben. Er schreibt «Kassensturz»: «Was die Staatsanwaltschaft betrifft, so führten die erhöhten Anforderungen der damals noch recht neuen Schweizerischen Strafprozessordnung zu Verfahrensverzögerungen. (…) Dass es zu der genannten langen Verfahrensdauer gekommen ist, bedauern wir (…).»

Die Tatsache, dass nun ein mutmasslich hoch rückfallgefährdeter Sexualstraftäter wieder in Freiheit ist, kommentiert Andrea Bettiga nicht.

Vertrauen in Rechtsstaat zerstört

Man habe aber auch Lehren gezogen, schreibt Regierungsrat Andrea Bettiga: «Es wurde ein engmaschiges Monitoring eingeführt, das den Verlauf der Pendenzen aufzeigt.» Und Sexualdelikte würden von der Staatsanwaltschaft Glarus prioritär behandelt. Nicole B. nützt das nichts mehr, ihr Vertrauen in den Rechtsstaat ist zerstört: «Der Missbrauch traumatisierte mich, doch das Versagen der Glarner Justizbehörden war für mich fast noch schlimmer.»

Video
Anwältin Andrea Stäuble im Studio: «Das Strafmass wird nie ausgenutzt»
Aus Kassensturz vom 31.10.2023.
abspielen. Laufzeit 5 Minuten 11 Sekunden.

Espresso, 31.10.2023, 8:10 Uhr

Meistgelesene Artikel