Weniger ist mehr – davon sind sie überzeugt: die zwölf Frauen und drei Männer, die an einem Fastenretreat im Wallis teilnehmen. Hier essen sie eine Woche lang praktisch nichts. Täglich gibt es zwei Suppen und einen Saft, dazu viel Bewegung in Form von Wandern oder Yoga.
Was für viele nach Verzicht klingt, ist für die Teilnehmenden ein Gewinn. Ein Herunterkommen. Es fehle ihr gar nichts, sagt etwa Karin Rohrer. Am zweiten Tag der Fastenwoche habe sie zwar etwas Probleme mit dem Kreislauf gehabt, aber sonst gehe es ihr gut. Es sei ein schönes Gefühl, hier zu fasten, meint sie.
Der bewusste Verzicht aufs Essen ist etwas Uraltes, das auch in vielen Religionen praktiziert wird. Immer mehr Menschen setzen auf die temporäre Essenspause. Besonders das Intervallfasten hat sich in sozialen Medien zu einem regelrechten Hype entwickelt.
Beim Intervallfasten isst man während 16 Stunden gar nichts (siehe Box). Die meisten lassen dabei einfach das Frühstück weg. Den Trend spürt auch Nadja Niggl, Leiterin der Walliser Fastenwoche. Sie freut sich darüber, dass immer mehr diese Ernährungsform ausprobieren und stellt auch fest, dass sich immer mehr jüngere Menschen und auch Männer fürs Fasten interessieren.
Fasten hilft mir, mal aus dem Schnellzug auszusteigen, einen Break zu machen und durchzuatmen.
Im Retreat bei Fastenleiterin Nadja Niggl geht es praktisch niemandem ums Abnehmen, sondern vielmehr darum, sich selber etwas Gutes zu tun. Oder, wie es Christoph Meyer formuliert: «Mal aus dem Schnellzug aussteigen, einen Break machen und durchatmen.»
Einige in der Gruppe spüren schon nach wenigen Tagen auch körperliche Veränderungen. Gilberte Stegmüller sagt, dass sie weniger Probleme mit dem Rheuma in ihren Fingern habe: «Ich habe kein Stechen und kein Ziehen mehr, und das nach nur einer Woche.»
Handfeste Wirkung auf die Gesundheit
Gesundheitliche Verbesserungen durchs Fasten hat auch Olaf Kaiser aus Deutschland erlebt, der in der Praxis von Ernährungsmediziner Markus Bock sitzt. Kaiser hat seit vier Jahren Diabetes Typ 2 und muss sich täglich Insulin spritzen. Allerdings hätten die Medikamente irgendwann nicht mehr gewirkt.
Ernährungsmediziner Bock hat ihm deshalb 14 Tage Fasten mit Bouillon, Hüttenkäse und Kokosöl verordnet. Olaf Kaiser hat dabei insgesamt acht Kilogramm abgenommen – und auch auf seine Blutwerte und den Diabetes hat sich die Umstellung des Stoffwechsels ausgewirkt.
Das alles sind aber Einzelfallberichte und diese widerspiegeln erstmal nur die persönlichen Erfahrungen von Menschen. Kann Fasten wirklich Krankheiten heilen?
Fasten habe immer schon zur Lebensweise des Menschen gehört, sagt Forscher Stephan Herzig vom Helmholtz-Diabetes-Zentrum in München: «Unsere ganzen Gene sind eigentlich zu Zeiten entstanden, in denen es durchaus natürlich war, mal nichts zu essen.»
Forscher weltweit sind überzeugt, dass vorübergehender Verzicht auf Nahrung vielen Krankheiten vorbeugen kann und sich positiv auf die Gesundheit und die Lebenserwartung auswirkt. Tatsächlich belegen immer mehr Studien positive Effekte.
Zu viel, zu ungesund, zu süss
Das Problem der heutigen Zeit sei die ständige Verfügbarkeit von Nahrung, meint Philipp Gerber, Stoffwechselexperte am Universitätsspital Zürich. «Der Kühlschrank ist immer griffbereit und gefüllt. Wir essen generell zu viel und zu viel Ungesundes – etwa zu viel Zucker.» Hier könne Fasten ein gutes Gegengewicht sein. Aus den Studien sehe man klar, dass Fasten etwa bei Diabetes oder Stoffwechselerkrankungen positiv wirke. «Zwischendurch eine Essenspause ist also gar nicht schlecht», so Gerber.
Beim Fasten nutzt unser Körper seine Energiereserven. Innerhalb von etwa zwölf Stunden nach der letzten Nahrungszufuhr stellt sich der Stoffwechsel um.
Das Gehirn benötigt vor allem Zucker, Glukose. Damit der lebenswichtige Glukosespiegel im Blut aufrechterhalten wird, aktiviert der Körper zunächst seine Reserven aus der Leber.
Nach etwa 48 Stunden sind die Zuckerspeicher leer. Dann stellt der Organismus auf Eiweissverbrennung um. Das führt kurzzeitig zu Muskelabbau. Der Insulinspiegel sinkt. Ausserdem startet der Körper die Fettverbrennung. Dabei wandelt er Fettzellen in sogenannte Ketone um. Sie liefern besonders effizient Energie.
Viele Fragen zum Fasten sind noch ungeklärt
Zudem kommt ein wichtiger Recyclingprozess in Gang: die Autophagie. Zellabfall, der sich immer wieder in vielen Körperzellen ansammelt, wird zunächst von einer Biomembran umhüllt. Diese «Abfalltüte» verschmilzt mit kleinen Bläschen voller Enzyme. Der zelluläre Abfall wird recycelt, zum Beispiel zu Mikrobrennstoff.
Die Grundlagenforschung gebe gute Hinweise auf die positiven Effekte des Fastens. Dennoch sind laut dem Stoffwechselexperten noch viele Fragen ungeklärt. Es sei daher wichtig, zu betonen, dass viele Daten aus der Forschung an Tieren stammen, unterstreicht Gerber.
Kaum Studien mit Wirksamkeitsbelegen am Menschen
Klinische Humanstudien über Wirkungen des Fastens gibt es nicht sonderlich viele, zudem sind die Aussagen nicht eindeutig. Das Interesse der Forschung, Effekte des Fastens auf die Gesundheit zu untersuchen, erwache erst langsam.
Eine grosse Frage ist gemäss Gerber auch, inwiefern positive Effekte wirklich aufs Fasten alleine zurückgehen und welchen Anteil das Reduzieren von Kalorien habe. Es gebe aber durchaus Hinweise, dass der Wechsel von Hunger- und Essenszeiten positiv wirke, da der Körper dabei seinen Stoffwechsel umstelle.
Die Fastengruppe im Wallis ist vom aktuellen Stand der Wissenschaft unberührt. Die positiven Effekte des Fastens erleben sie am eigenen Leib – etwa, wenn sie nach einer Woche ohne feste Nahrung in einen Apfel beissen dürfen. «Wunderbar», meint eine Teilnehmerin: «Den Saft zu spüren, einen Apfelschnitz zu geniessen. Einfach schön.»