Etage 29. Viel höher hinauf geht’s nicht. Carol Schuler und Anna Pieri Zuercher sitzen auf dem Sofa in der Suite eines Zürcher Hotel-Hochhauses. Vier Tage noch bis zur Premiere von «Züri brännt» am 16. Zurich Film Festival. Drei Wochen fehlen bis zur TV-Ausstrahlung am 18. Oktober.
Erste Geständnisse: Schuler gibt nur ungern Interviews. «Das sind ja nie Gespräche, sondern eher Verhöre.» Pieri Zuercher leidet an Höhenangst: «Ich sehe mich schon tot da unten liegen.» Grosses Gelächter, als der Reporter sich als Stefan Gubser ausweist. Ausgerechnet.
Wie tickt das neue Schweizer «Tatort»-Duo? Carol Schuler und Anna Pieri Zuercher über alte, weisse Männer, Jugendideale und Leichen im Keller.
SRF: Endlich «Tatort»-Kommissarin – und Sie dürfen kein einziges Mal im Dienstwagen vorfahren. Sie werden sich verschaukelt vorgekommen sein?
Carol Schuler: (lacht) Ich wüsste nicht, warum eine Kommissarin nicht Fahrrad fahren sollte. Es sei denn, sie müsse gleich jemanden verhaften.
Da ist überhaupt kaum ein Polizeiauto zu sehen, nirgends. Einen ganzen «Tatort» lang.
CS: Wir haben grün gedreht. Das wollen wir den Leuten auch zeigen. Die Sehgewohnheiten sollen sich ruhig ändern.
Weniger zeitgemäss: Das viele Händeschütteln, das in den ersten Minuten von «Züri brännt» ins Auge fällt. Wie fremd ist Ihnen beiden unsere prä-pandemische Welt schon geworden?
APZ: Ich bin der lateinische Typ. Mir fällt es äusserst schwer, jemanden nicht umarmen zu dürfen.
Sie haben den «Tatort» wenige Wochen vor dem Lockdown abgedreht.
CS: Zum Glück. Ich hatte danach noch einen Dreh in Berlin, der wegen Corona unterbrochen wurde. Als wir im Juni weiterdrehen konnten, war Maske Pflicht auf dem Set. Man hat die Umarmungen aus dem Drehbuch rausgeschrieben.
In «Züri brännt» kommen Sie einmal einem greisen Polizeikommandanten gefährlich nahe, als Sie mit durchaus zweifelhaften Mitteln versuchen, ihn zum Reden zu bringen. Wie weit darf man gehen im Dienst der Wahrheit?
CS: Puh! Meine Figur Tessa hat eine anarchische Seite. Sie kann weit gehen. Sehr weit.
APZ: Isabelle, die ich spiele, glaubt nur an Fakten. So etwas würde sie nie tun, weil sie es ethisch nicht vertreten könnte. Deswegen gibt es auch Probleme zwischen den beiden.
Auch unsere Figuren haben ihre Leichen im Keller.
Nicht nur wegen dieser Szene, in deren Mittelpunkt ein alter, weisser Mann steht, der alles vergessen haben will: Muss man sich Sorgen machen um das vormals sogenannt «starke Geschlecht»?
CS: Das glaube ich nicht. Der alte, weisse Mann hatte lange Zeit eine starke Machtposition inne, die nie angegriffen wurde. Es ist gut, dass sich da endlich etwas tut. Ein Kommissar kann heute auch eine junge, schwarze Frau sein. Oder zwei Frauen. Oder alles Mögliche.
APZ: Die Frauenfrage wird immer gestellt. Das heisst, das Problem ist noch nicht gelöst.
Noch so ein Gender-Generalverdacht aus dem neuen Schweizer «Tatort»: Die Frauen scheinen eine Spur gnadenloser, wenn es um das Aufklären unangenehmer Wahrheiten geht. Deckt sich das mit Ihrer eigenen Lebenserfahrung?
CS: Ich glaube schon, dass Frauen sich stärker hinterfragen. Dass sie die Fehler eher bei sich suchen. Das mag damit zusammenhängen, dass viele Männer noch einem Männlichkeitsbild nachhängen, das ihnen vorschreibt, sie hätten alles richtig zu machen.
Man darf allerdings nicht vergessen: In «Züri brännt» erleben wir die Nachwehen einer Geschichte, die sich vor 40 Jahren zutrug. Damals war es für einen Polizisten ungleich schwieriger, einen Fehler zuzugeben.
APZ: Auch unsere Figuren haben ihre Leichen im Keller.
CS: Auch die Frauen sind nicht ohne Makel. Kein Mensch ist frei von Fehlern!
Ich wüsste nicht, warum eine Kommissarin nicht Fahrrad fahren sollte.
«Züri brännt» schlägt den Bogen zurück zu den Zürcher Jugendunruhen der 1970er- und 1980er-Jahre. Was verbinden Sie als Nachgeborene noch mit dieser bewegten Zeit?
CS: Ich habe mich erst in der Vorbereitung auf diesen «Tatort» intensiver mit dieser Zeit auseinandergesetzt. Meine Mutter war da näher dran. Sie war Zaungast bei den legendären Globuskrawallen.
APZ: Ich bin in Biel aufgewachsen. Aber ich habe gehört, in Zürich war damals fast alles verboten. Die Energie der Jungen hat die Stadt also verändert. Ist doch gut so.
Dieser «Tatort» wirft auch die Frage auf, was von den Idealen übrigbleibt, die man als junger Mensch hat. Wie bieder und bürgerlich sind Sie beide schon geworden?
CS: Ich war in meiner Jugend nicht politisch, uns ging es einfach zu gut. Ich habe mich nur mit Musik, Kunst und Theater beschäftigt. Politisiert worden bin erst in den letzten Jahren.
APZ: Ich habe Klavier studiert. Die Lage war ruhig damals, man war optimistisch. Kein Vergleich, wenn ich an die Klimajugend von heute denke. Die Jungen rütteln uns auf!
Sie geben im «Tatort» die ehrgeizige Aufsteigerin, die es auch den Männern zeigen will. Eine Rolle, die Ihnen behagt?
APZ: Die Frage ist: Warum will Isabelle Karriere machen? Ich glaube, weil sie begriffen hat, dass die die Chefin sein muss, wenn sie etwas verändern will.
Sie, Frau Schuler, spielen die Rolle der Tochter aus gutem Hause, die Ihren Job möglicherweise Beziehungen verdankt und sich deswegen doppelt beweisen muss. Der ewige Verdacht gegen die Frau in der Berufswelt?
CS: Tessa musste nie wirklich kämpfen, weil sie in einen goldenen Käfig hineingeboren wurde, Deswegen hat sie diese Aversion gegen Karrieristen. Aber sie hat eben auch ein Gefühl für die sozialen Ungerechtigkeiten, die in ihrem Elternhaus ausgeblendet wurde.
«Lektion 1: Mach dich nicht kleiner als du bist», gibt Ihnen die Staatsanwältin auf den beruflichen Lebensweg mit. Was haben Sie auf dem Set des ersten Schweizer Frauen-«Tatort» gelernt?
CS: Siehst du, Anna, das meinte ich mit Verhör…
APZ: Wir haben gelernt zu schiessen.
Das Gespräch führte Stefan Gubser.