Zwei Frauen, die sich belauern, belauschen, belügen und benutzen. Davon handelt «May December» – unter anderem. Der Titel des Films bezieht sich auf etwas ganz anderes: «May December» ist eine in Amerika geläufige Wendung für die Liebesbeziehung zwischen Personen mit grossem Altersunterschied. Der Mai steht dabei sinnbildlich für den Menschen im Lebensfrühling, während der Dezember dessen Gegenpol repräsentiert.
Joe (Charles Melton) war gerade einmal 13, als er sich in die verheiratete 36-jährige Gracie (Julianne Moore) verliebte. Ein Skandal erwuchs daraus erst, als die beiden in flagranti beim Liebesspiel ertappt wurden. Sie verliess für ihn darauf Hals über Kopf Mann und Kinder, bevor sie wegen «Unzucht mit Minderjährigen» hinter Gitter kam.
Verbotene Liebe
Für die Klatschpresse der 1990er-Jahre war die illegale Lovestory ein gefundenes Fressen. Erst recht, als Gracie im Gefängnis ihr erstes gemeinsames Kind mit Joe zur Welt brachte.
Der Film serviert das pikante Tabloid-Futter glücklicherweise bloss als Amuse-Gueule vor dem viel raffinierteren Hauptgang. Die Handlung von «May December» ist nämlich 2015 angesiedelt. Gracie und Joe sind immer noch ein Paar und haben inzwischen drei Kinder grossgezogen, als die Schauspielerin Elizabeth (Natalie Portman) in ihr Leben tritt.
Der Hollywoodstar besucht die beiden zwecks Recherche. Schliesslich soll sie in ihrem nächsten Film Gracie spielen und das so authentisch wie möglich. «Ich will die Geschichte richtig erzählen», sagt sie der inzwischen 59-Jährigen, mit der sie auf den ersten Blick weder äusserlich noch charakterlich viel verbindet.
Überraschende Komik
Um die Unterschiede seiner Hauptfiguren hervorzuheben, lässt Regisseur Todd Haynes die zwei Frauen zusammen vor einen Spiegel treten. Beim gemeinsamen Schminken tasten sich die beiden vorsichtig ab – auf der Suche nach möglichen Gemeinsamkeiten.
Meine Eltern fanden immer, ich sei zu klug, um «nur» Schauspielerin zu werden, erzählt Elizabeth, die schon als Mädchen um ihre Berufung wusste. «Meine Mutter hat ein Buch über epistemischen Relativismus geschrieben», sagt die Akademiker-Tochter mit einer selbstbewussten Mischung aus Stolz und Spott. Worauf ihr Gracie völlig naiv und mit lispelnder Stimme entgegnet: «Meine Mutter hat ein Rezept für Blaubeerauflauf geschrieben.»
Regisseur Todd Haynes ist bekannt dafür, dass er mit Gusto und Witz dick auftragen kann. Dennoch war nicht zu erwarten, dass er dieser Geschichte voller falscher Fährten auch Züge einer selbstironischen Soap verleihen würde. Besonders die immer wieder aufbrausende melodramatische Musik trägt viel zur Komik bei, die der Film aus dem Kontrast von Pathos und Schalk zu ziehen weiss.
Durchaus Oscar-würdig
Todd Haynes wagt mit «May December» deutlich mehr als bei seinen vielfach preisgekrönten Meisterwerken wie «Carol» oder «Far From Heaven». Folgerichtig goutieren nicht alle seine jüngste Regiearbeit, die nur in der Kategorie «Bestes Original-Drehbuch» eine Oscar-Nominierung erhielt.
«Der Film ist der so creepy, dass es komisch ist, ihn gut zu finden», sagte mir zum Beispiel eine geschätzte Berufskollegin. Ich dagegen finde es komisch, Haynes' kunstvolles Spiegeln zweier ambivalenter Frauen «creepy» zu finden.
Denn wirklich unheimlich sind für mich nur die zwei Hauptdarstellerinnen: unheimlich gut.
Kinostart: 22.2.2024