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Gesellschaft & Religion «Drogen sind nicht nur schlecht und gefährlich»

Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression: Die Schweiz hat für ihre Drogenpolitik viel Lob erhalten. Jetzt muss sie sich weiterentwickeln, fordert Sandro Cattacin: der Genfer Soziologe über Verbotsfinger, reguliertes Kiffen und bewussten Drogenkonsum.

  • Die Schweizer Viersäulenpolitik braucht dringend neue Impulse, sagt Drogenexperte Sandro Cattacin.
  • Es braucht einen Diskurs über die Abhängigkeits- und Verbotsdebatte hinaus.
  • In der Schweiz gibt es 500'000 Menschen, die kiffen. Darüber sollte man reden.

SRF Kultur: Herr Cattacin, Sie sind der Meinung, dass sich aus einer drogenpolitischen Perspektive die Schweiz bereits zu lange auf den Lorbeeren der Viersäulenpolitik ausruht und es Handlungsbedarf gibt. Warum?

Die Viersäulenpolitik

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Repression, Prävention und Therapie: Das war bis in die 1990er-Jahre das Fundament der Schweizer Drogenpolitik. Als sich zeigte, dass diese Massnahmen gerade im Kampf gegen die Heroinsucht nicht ausreichten, setzte man zusätzlich auf den vierten Pfeiler Schadensminderung. Diese sogenannte Viersäulenpolitik wurde 2008 gesetzlich verankert.

Sandro Cattacin: Die Viersäulenpolitik ist historisch aus einem Wechselspiel von Repression und Therapie entstanden. Erst das Elend am Platzspitz führte zusätzlich zu Formen der Medikalisierung: Methadon ist da das Stichwort. Es erlaubt Menschen in der Sucht, einigermassen über die Runden zu kommen. Parallel dazu etablierte sich die vierte Säule: die Schadensminderung im Sinne einer Risikoreduktion etwa durch saubere Spritzen. Auf diesem Weg hat sich die Viersäulenpolitik sehr gut eingespielt.

Was bedeutete das für die Praxis?

Polizisten nahmen nicht mehr einfach die Spritzen weg; Medizin und Therapie differenzierten sich, und man diskutierte gemeinsam über schwierigere soziale Probleme. Leider verselbständigten sich die Viersäulen mit der Zeit, so dass keine Kommunikation mehr untereinander stattfand. Besonders in der Schadensminderung existiert eine Welt, die nicht mehr über Drogen als Problem spricht, das man loswerden kann, sondern gewissermassen die Abhängigen in der Abhängigkeit einrichtet.

Hier setzt Ihre Kritik an.

Meine erste Kritik zielt auf diese abgekapselte Viersäulenpolitik. Das zweite Problem sehe ich in der Tatsache, dass die ganze Viersäulenpolitik in Bezug auf Heroin entwickelt wurde. Dies ist veraltet und müsste sich heute – gerade gesetzlich – in Richtung einer multiplen Problemlogik verschieben.

Ein anonymisierter Arzt der Psychiatrischen Uni-Klinik Zürich, der durchaus ein überzeugter Befürworter des Methadonprogramms ist, meinte in einer Schweizer Tageszeitung: «Methadon ist in einigen Fällen eher Opium für das Volk. Es stellt nicht nur den Konsumenten ruhig, es schläfert auch die Wahrnehmung der Gesellschaft ein.» Was sagen Sie dazu?

Sandro Cattacin

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Legende: Keystone

Der Soziologie-Professor forscht an der Universität Genf über den gesellschaftlichen Umgang mit Drogen. Cattacin ist Mitglied der Kommission für Suchtfragen und Präsident einer überparteilichen Arbeitsgruppe, die wissenschaftlich begleitete Cannabis-Pilotprojekte koordiniert.

Was an diesem Zitat stimmt, ist der gesellschaftliche Zusammenhang beim Drogenkonsum, der nicht einfach auf einer individuellen Ebene existiert. Wir haben heute überall Drogen: Wir beginnen den Tag mit Kaffee und beenden ihn mit einem Glas Wein. Das sind funktionale Teile unserer Gesellschaft, in der wir am Tag leistungsfähig sein müssen und uns am Abend entspannen sollten. Das heisst: Ich trinke am Abend ein Glas Rotwein, damit ich am nächsten Tag leistungsfähig bin.

Drogen sind ein Spiegel unserer Gesellschaft.

Das waren sie schon immer, und daran hat sie bis heute nichts geändert. Drogen gehören nicht in die Abhängigkeits- und Verbotsdebatte, sondern in die wirtschaftliche und politische Debatte. Es braucht einen Diskurs, der Drogen nicht einfach als «schlecht» und «gefährlich» verkennt, sondern Drogen als Hilfsmittel, als Freude, als Freizeit und als Herausforderung anerkennt. Der Diskurs der Gefahr überschattet jedoch diese Form des Benennens und Anerkennens: gerade auch der sozio-ökonomischen Probleme.

Das Schweizer Volk hat 2008 eine flächendeckende Legalisierung von Cannabis abgelehnt und sich zugleich für das neue Betäubungsmittelgesetz ausgesprochen, das wissenschaftlich betreute Pilotprojekte zulässt. Nun sind Sie Präsident einer überparteilichen Arbeitsgruppe, die genau solche Projekte koordiniert. Welcher Logik folgen diese Pilotprojekte?

Die Abstimmung von 2008 ist vor allem interessant, weil es eigentlich nicht um Cannabis ging, sondern um das neue Betäubungsmittelgesetz, das die Viersäulenpolitik erst richtig im Gesetz verankerte. Gerade weil man diese gesetzliche Festlegung nicht gefährden wollte, thematisierte man die Kiffer-Initiative nur ungern. Obwohl bereits damals klar war, dass der Ansatz dieser Initiative politisch richtig und weiterführend ist: Auch wenn wir es geschafft haben, den Cannabis teils mit Ordnungsbussen zu entkriminalisieren, sind uns nach wie vor beim Problemkonsum die Hände gebunden.

Was tun?

Solange die 500‘000 Schweizer CannabisraucherInnen nicht aus der Illegalität und dem stigmatisierten Versteck entzogen werden, können wir präventiv auch nicht den problematischen vom unproblematischen Konsum unterscheiden.

Es braucht deshalb eine Regulierung, die Cannabis nicht gewinnorientiert vermarktet, sondern in einem öffentlich geregeltem Raum bewusst konsumieren, thematisieren und problematisieren lässt. Die Kernaussage darf also nicht bei der illegalen Masse liegen, sondern im Wissen, dass wir diesen Konsum massiv in unserer Gesellschaft haben und mit ihm auch bewusst umgehen können.

Sprechen wir einen solchen massiven Konsum an: Die Uni Lausanne hat im Abwasser von Schweizer Städten nach Drogenrückständen gesucht und festgestellt, dass 8 Tonnen Kokain jährlich konsumiert werden. Hochgerechnet sind das 22‘000 Konsumierende pro Tag. Wie geht da eine Prävention sinnvoll vor?

Das Spannende an Drogen wie Kokain und Ecstasy ist ihre wirtschaftliche und mehr oder weniger auch soziale Verträglichkeit. Problematisch ist, wenn jemand zu viel oder zu früh Kokain konsumiert. Wir wissen, dass zwischen 15 und 16 Jahren der Zug bereits abgefahren ist. Da braucht es mehr als den Verbotsfinger von Lehrern und Eltern. Auch ist es wenig hilfreich, dass bis heute in gewissen Kantonen und deren Schulen nicht offen über Cannabis gesprochen wird – was natürlich das Produkt noch viel interessanter macht.

Wer könnte denn eine positive Vorbildfunktion übernehmen?

Was in der Prävention funktioniert, sind die «älteren Brüder», wie sie in Frankreich genannt werden. Die älteren Jugendlichen tragen nicht nur ähnliche Kleider und sprechen eine ähnliche Sprache, sondern geniessen auch den Respekt von jungen Peer-Groups, in denen übermässig Alkohol und Drogen konsumiert werden. Sie signalisieren nicht das Verbot, sondern dass nach einem Joint Schluss ist.

Leider macht die Schweiz viel zu wenig in Bezug auf diese Vermittlergruppe. Anstatt in solche junge Menschen zu investieren, die auch andere Formen der Adrenalinsuche vorleben könnten, begnügen wir uns mit dem «Vorzeigen» eines Heroin-Abhängigen. Das funktioniert nicht. Das führt zu Ironisierung und Respektlosigkeit. Was wir heute brauchen, sind Menschen, die mitten im Leben stehen und einen bewussten Umgang mit Drogen vorleben.

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