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Gauck: «Wir wollen keine Erinnerung, die uns einschüchtert»
Aus Kultur Extras vom 28.03.2014.
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Gesellschaft & Religion Joachim Gauck: Aufarbeitung dient der Freiheit

Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck plädiert für eine lebendige Erinnerungskultur. Doch wie hält man Erinnerung an etwas wach, das verblasst? Eine Frage, die sich auch im Unterricht stellt: Wie geht man heute mit Kapiteln wie der NS-Zeit in Deutschland oder den Schweizer Verdingkindern um?

Aufarbeitung muss sein. Für dieses Credo steht zur Zeit niemand so überzeugt ein wie der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck. Sein Bemühen um einen verantwortungsvollen Umgang mit der Geschichte ist umso glaubwürdiger, als er als Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen die DDR-Zeit aufarbeitete und zeitlebens gegen das historische Vergessen anschrieb.

Nicht in der Schuld verharren

Ein Mann im dunklen Anzug legt einen grossen Blumenkranz nieder.
Legende: «Erinnerung als Kraftquelle»: Joachim Gauck gedenkt im März 2014 den Opfern von Nazi-Verbrechen in Griechenland. Keystone

Aufarbeitung ist für Gauck dabei stets Mittel zum Zweck: Zwar sind wir durchaus verpflichtet, Schuld zuzuweisen und einzugestehen. Doch dabei dürfen wir nicht stehen bleiben. Vielmehr ermöglicht erst das Schuldbewusstsein Verzeihen und Neuanfang. Aufarbeitung diene deshalb stets der Freiheit, ist Gauck überzeugt.

In seiner Rede zur Vereidigung zum Bundespräsidenten am 23. März 2012 sagte er: «Ich möchte meine Erinnerung als Kraftquelle nutzen, mich und uns zu lehren und zu motivieren.»

Aufarbeitung als Schulstoff

Aufzuarbeiten gibt es in Deutschland gleich zwei dunkle Kapitel: Die NS-Zeit und die Repressionen in der DDR. Deutschland hat dabei Vorbildcharakter für viele Staaten, die ebenfalls eine totalitäre Geschichte zu verwinden haben: Die Aufarbeitung ist hier Staatsaufgabe und in den Schulen stetes Thema. In den Lehrplänen aller Bundesländer ist eine sensible Thematisierung beider Epochen sowie die Geschichte und deren Aufarbeitung Pflicht.

Kein Überdruss

Obwohl deutsche Kinder und Jugendliche also mehrere Male während ihrer Schullaufbahn mit den Gräueln der Nazi-Zeit und den Repressionen der DDR-Diktatur konfrontiert werden, sei eine Ermüdung für diese Themen nicht erkennbar, sagt Realschulleiter Jens Dunkel aus Warendorf – zumindest nicht mehr als für das Pauken chemischer Formeln.

Während seiner eigenen Schulzeit in den 1980ern habe es noch eine «Nestbeschmutzerdebatte» gegeben, als in seiner Heimatstadt Hemer einem Lager gedacht werden sollte, in dem russische Kriegsgefangene zu Zwangsarbeit verpflichtet wurden. Der Aufruhr erkläre sich rückblickend auch dadurch, dass die damaligen Entscheidungsträger in der Politik, bei der Bundeswehr und bei Bürger- und Heimatvereinen selber noch die Nazizeit miterlebt hätten.

Die heutigen Lehrer hätten ihr Wissen wie die Schüler aus zweiter Hand und eine gewisse Distanz zu den Geschehnissen. Dies könne für die Vermittlung hilfreich sein, ist Jens Dunkel überzeugt.

Aussterbende Zeitzeugen

Allerdings lebt Geschichtsvermittlung auch von Zeitzeugen. Die Überlebenden des Holocausts sind jedoch eine aussterbende Generation. Es müssten deshalb neue Wege ausgelotet werden, wie Aufarbeitung packend und authentisch vermittelt werden könne, sagt Ulrich Bongertmann, Vorsitzender des Verbands der Geschichtslehrer Deutschlands. Gerade in Mecklenburg-Vorpommern, wo Bongertmann unterrichtet, würden rund 10 Prozent der Schüler mit rechtsextremen Gedankengut sympathisieren.

Sensible Aufklärung, die die Schülerschaft aufrüttle und sachgerecht informiere, sei umso wichtiger. Öffentliche Rundfunkanstalten gehen den Schulen mit aufwändig produzierten Dokumentationen zur Hand. So kommen im Projekt «Gedächtnis der Nation», das in Zusammenarbeit mit dem ZDF entsteht, beispielsweise Zeitzeugen eines ganzen Jahrhunderts zu Wort und vermitteln Geschichte damit ganz persönlich.

Aufarbeitung an Schweizer Schulen

Auch die Schweiz hat düstere Kapitel aufzuarbeiten, etwa die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg oder die Geschichte der Verdingkinder. In den Lehrplänen wird allerdings diese Aufarbeitung nicht gefordert. Peter Gautschi, Leiter des Zentrums Geschichtsdidaktik und Erinnerungskulturen an der Pädagogischen Hochschule Luzern, erklärt dies damit, dass der Lehrfreiheit in der Schweiz bisher hohe Bedeutung zukomme.

Zwar sei es wichtig und eigentlich selbstverständlich, dass Geschichte kritisch vermittelt werde. Die Vertrauenskultur, die Lehrpersonen bis anhin entgegengebracht würde, dürfe jedoch nicht in eine Misstrauenskultur kippen, indem Lehrpläne noch mehr vollgepackt würden.

Lebendige Erinnerungskultur

Gautschi setzt vielmehr auf packende Lehrmittel, wie beispielsweise «Hinschauen und Nachfragen», das auch Passagen zur Aufarbeitung enthalte. Allerdings wurde das Buch von rechtsbürgerlichen Kreisen auch kritisiert.

Ausserdem plädiert Gautschi für einen Geschichtsunterricht, der an der Realität der Schülerinnen und Schüler sowie an der gegenwärtigen Erinnerungskultur anknüpfe: Wer das Mittelalter thematisiere, könne dazu etwa Passagen aus dem Roman «Der Medicus» beiziehen, und wenn die Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs auf dem Programm stehe, empfehle sich beispielsweise der Film «Akte Grüninger», der im Moment in unseren Kinos läuft.

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