Als Omar Ibrahim neben seinem Philosophiestudium in einer Asylunterkunft arbeitete, merkte er schnell: Die Philosophie nützte ihm im Umgang mit Menschen aus unterschiedlichsten Religionen und Kulturen sehr. Als «Übersetzerin» half sie, die Probleme der Personen für sie fassbar zu machen und zu strukturieren. Damit trug sie zu ihrem Wohlbefinden bei.
Dieses Potenzial wollte er ausbauen und schrieb eine Doktorarbeit darüber, wie die Philosophie als eine Art Seelsorge eingesetzt werden könnte. Schliesslich war genau das ihre Aufgabe, «bevor sie sich in ihren akademischen Elfenbeinturm zurückzog».
Schon Sokrates widmete sich in der Antike «der Sorge um sich selbst, dem Wohl der eigenen Seele». Damals gehörte die Philosophie unter die Leute. Es sei Zeit, sie wieder dorthin zurückzubringen.
Alles, was Menschen hilft, sollte im Interesse der Theologie sein.
Zehnmal wurde die Idee zu seiner Doktorarbeit abgelehnt. «Ja», sagte schliesslich keine philosophische Fakultät, sondern Isabelle Noth, Professorin für Seelsorge am Institut für praktische Theologie der Universität Bern. Der Fakt, dass die Seelsorge philosophische Wurzeln habe, überzeugte sie. Es ergebe Sinn, diese freizulegen und zu untersuchen, was Philosophie heute leisten könne. «Alles, was Menschen hilft, sollte im Interesse der Theologie sein», meint Noth.
Neue Wege in einer pluralistischen Gesellschaft
Laut Bundesamt für Statistik gibt es in der Schweiz erstmals mehr Konfessionslose als Katholiken und Katholikinnen – Tendenz steigend. In einer Gesellschaft, die immer säkularer und pluralistischer wird, tut auch die Seelsorge gut daran, neue Wege zu gehen. Doch wie könnte eine philosophische Begleitung aussehen?
Zum einen gehe es um philosophische Gesprächsführung und darum, die richtigen Fragen zu stellen, so Ibrahim: Was bedeutet ein erfülltes Leben für einen Menschen im Gefängnis, in einer schwierigen Fluchtsituation? Es gehe darum, den Menschen zu helfen, die richtigen Worte und Begriffe für ihre Gefühle und Bedürfnisse zu finden.
Philosophie ist mehr als Worte. Sie könnte auch bedeuten, einer sterbenden Person die Hand zu halten.
Macht das nicht schon die Psychologie? Auch diese stellt Fragen nach einem gelungenem Leben. Doch, so Omar Ibrahim, konzentriere sich die Psychologie vielmehr auf den Gefühlszustand, das «Ich» der Person. Die Philosophie bediene ein weiteres Spektrum. Stelle Fragen zu gesellschaftlichen Konzepten, zu Sinnhaftigkeit und Transzendenz. In der «Philosophical Care» gehe es auch nicht um Lösungen von Problemen, sondern um den Umgang mit ihnen.
Und ganz wichtig: Philosophie sei viel mehr als Worte und Sprachkontrolle, so Omar Ibrahim. «Sie ist eine Art der Zuwendung: Die Art, wie man einem Menschen begegnet, ihm zuhört, einen Raum für Vertrauen öffnet.» Das könne auch bedeuten, einer sterbenden Person die Hand zu halten.
Auch die Freidenker-Vereinigung redet mit in der Diskussion rund um die Seelsorge. Sie fordert eine Seelsorge ohne «Seele», um Menschen ohne Konfessionszugehörigkeit mit einem weltlichen Angebot gerecht zu werden. Diese «Wohlsorge» oder «humanistische Begleitung» hat sie zum Beispiel schon an Spitälern oder Hochschulen im Kanton Luzern angeregt – bisher erfolglos. Mit ihrer Forderung will sie auch gegen das finanzielle Seelsorge-Monopol der Kirche angehen.
Auch Omar Ibrahim möchte das neue Angebot nicht «Seelsorge» nennen, sondern eben «care», um Menschen und Weltbilder, «die mit dem Konzept der Seele nichts anfangen können» nicht auszuschliessen.
Doch der «Philosophical Care» gehe es nicht darum, alles Religiöse auszuschliessen, «das wäre dogmatisch und unphilosophisch», so Ibrahim. Wenn jemand an eine Seele glaube, nehme er das gerne auf. Zusätzlich habe er die Erfahrung gemacht, dass es vielen religiösen Menschen wohler sei, «jemandem etwas anzuvertrauen, der nicht zur eigenen Glaubensgemeinschaft gehöre. Das Alkoholproblem eines Muslims oder der Suizidgedanke eines Katholiken zum Beispiel».
Was muss Seelsorge im 21. Jahrhundert leisten?
Auch Simon Peng-Keller, Professor für Spiritual Care an der Universität Zürich, begrüsst es, dass die Seelsorge auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert. Die Forderung der Freidenker-Vereinigung sieht er jedoch kritisch. Unter anderem, weil «Konfessionslose keine homogene Gruppe darstellen». Nur weil jemand aus der Kirche ausgetreten ist, sei er beispielsweise noch kein Atheist.
Die Philosophie könne zweifelsfrei zum Nachdenken anregen und zur begrifflichen Klärung und zur Selbstfürsorge beitragen. Für eine professionelle Tätigkeit in öffentlichen Institutionen und den Einbezug der spirituellen Dimension bedürfe es jedoch einer breiteren Expertise.
Bei hochvulnerablen Personen seien psychologische und interdisziplinäre Kompetenzen gefragt. Genau dies sei das Ziel des noch jungen Fachgebiets der Spiritual Care, das einen interprofessionellen Einbezug spiritueller und existenzieller Aspekte in die Gesundheitsversorgung fördert.
Herkömmliche Angebote ergänzen, nicht verdrängen
Omar Ibrahim sieht diesen Bedenken entspannt und mit Interesse entgegen. Die «Philosophical Care» wolle weder die kirchliche Fürsorge (die «Spiritual Care») noch psychologische Angebote verdrängen, sondern diese sinnvoll ergänzen.
Als eine der grössten Stärken der Philosophie sehe sie ihre Unbefangenheit, sagt Isabelle Noth: Sie sei unbelastet von den Altlasten und Auseinandersetzungen im Care-Bereich. Sie spreche dadurch Personen an, die eben keinen Pfarrer am Spitalbett wollen. Und: Sie habe die Kraft, Haltungen, Überzeugungen und Denkmuster auf heilsame Art infrage zu stellen.
Wie auch immer die künftige Seelsorge aussehen wird, sie muss auf Transparenz setzen.
Doch dieser Vorteil – ihre Freiheit – sei gleichermassen ihr Nachteil. Sie ist losgelöst von Institutionen, hat deshalb aber auch «keine Strukturen, keine konkreten Inhalte oder Rituale, auf welche sie sich berufen könne». Und erst recht: Keine Finanzen. Und ums Geld geht es schlussendlich immer.
Wohin steuert die Seelsorge?
Wird auch künftig hauptsächlich in die theologisch geprägte Seelsorge unterstützt? Oder gelingt es der Philosophie einen Platz einzunehmen? Für ihn sei klar, sagt Simon Peng-Keller: Wie auch immer die künftige Seelsorge aussehen wird, sie müsse auf Transparenz setzen. Denn auch eine atheistische Wohlsorge oder eine philosophische Fürsorge sei nie «neutral». Schlussendlich müssen die Menschen am Spitalbett, im Gefängnis oder Asylheim wissen, worauf sie sich einlassen.
Omar Ibrahim muss seine Doktorarbeit erst noch verteidigen. Wann der neue Studiengang «Philosophical Care» genau Realität wird, wie seine Absolventinnen und Absolventen genau eingesetzt und finanziert werden, ist noch unklar. Doch er ist guten Mutes. Das Interesse an seiner Arbeit, an der Philosophie als Lebenshilfe in einer Zeit, in denen es vielen an Orientierung fehlt, nehme stetig zu.