Trotz verbaler Attacken gegen die EU will Recep Tayip Erdogan weiter auf einen möglichen EU-Beitritt hinarbeiten. Das schreibt der türkische Präsident in einem Artikel anlässlich des Europatages der EU. Diese Aussage ist bedeutungsvoll.
«Sie zeigt uns die Richtung, in die die Türkei jetzt steuert», sagt Luise Sammann, Journalistin in Istanbul. Nach dem umstrittenen Verfassungsreferendum vor drei Wochen sehe alles danach aus, dass Erdogan und seine Regierung «das grosse Wogenglätten» begonnen hätten. «Nicht nur in Sachen EU, insgesamt sieht es danach aus, als wolle man zu Bruch gegangene Beziehungen wiederherstellen.»
Statt auf Konflikt auf Konsens setzen
Erdogan ist auf einer Art «Goodwill-Weltreise», wie es die in Istanbul lebende Journalistin nennt. Er war in Russland, in Indien, in einer Woche wird er in den USA erwartet. Es folgen Treffen mit der Nato-Spitze und EU-Vertretern. «Der Präsident ist dabei, die aussenpolitisch stark isolierte Türkei zurück ins Gespräch zu bringen.» Die jüngsten Aussagen zum Thema EU scheinen Teil davon zu sein.
Nicht nur in Sachen EU, insgesamt sieht es so aus, als wolle man zu Bruch gegangene Beziehungen wiederherstellen.
Erdogan habe nicht gesagt, «wir möchten sofort EU-Mitglied werden», aber er hielt fest, dass dies das strategische Ziel bleibe, so Sammann. «Man möchte die Beziehungen in einigen Bereichen vertiefen. Das klingt nach Konsensbildung.»
Auch Alleinherrscher brauchen Beziehungen
Im Abstimmungskampf blies noch ein anderer Wind. «Erdogan ist ein Politiker, der von Skandalen, Konflikten und Polarisierung innerhalb der Türkei und auch zwischen der Türkei und anderen Ländern stark profitiert», erklärt Sammann.
«Immer, wenn es Konflikte gibt, kann er sich zuhause als starker Führer präsentieren.» Er könne den Wählern sagen, «in dieser konflikbeladenen Welt braucht ihr einen wie mich, der euch vertritt und dem Westen die Stirn bietet».
Gleichzeitig müsse er aber auch Beziehungen zu anderen Ländern pflegen. «Die Türkei kann nicht isoliert dastehen», so die Journalistin. Sie brauche die EU – allein schon aus wirtschaftlichen Gründen. «Es ist offensichtlich, dass es der türkischen Wirtschaft schlecht geht. Der Tourismus liegt völlig am Boden.» Deshalb besinne man sich in Ankara nun wieder auf diese Beziehungen.
Keine kulturelle Anbindung an Europa
Auch in militärischer Hinsicht braucht die Türkei Allianzen. «Man sieht das zum Beispiel beim Syrien-Konflikt», erklärt Sammann. Die Türkei werde sich aber nicht mehr einem Block anschliessen. «Man hat immer gesagt, die Türkei müsse sich entscheiden. Möchten wir uns an Europa anschliessen oder an den Osten, die arabische Welt? Diese Entscheidung hat man hier inzwischen weggeschoben.»
Ein bisschen EU, um die Wirtschaft zu retten. Ein bisschen Russland wegen Energiefragen.
Man gehe jetzt strategische Allianzen mit unterschiedlichen Partnern ein, je nachdem, wo es der Regierung sinnvoll erscheine, so die Journalistin. «Ein bisschen EU, um die Wirtschaft zu retten. Ein bisschen Russland wegen Energiefragen und um andere Allianzen zu stärken.» Diese Anbindung an Europa, vor allem in kultureller Hinsicht, ist damit erst einmal vom Tisch.
EU-Beitrittskandidat liebäugelt mit der Todesstrafe
Im Vorfeld der Abstimmung über die neue Verfassung im April hatte der türkische Präsident Recep Tayip Erdogan ein weiteres Referendum ins Gespräch gebracht: Eines zur Einführung der Todesstrafe. Der österreichische Aussenminister Sebastian Kurz sprach sich daraufhin für ein sofortiges Ende der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei aus. Auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker warnte die Türkei vor dem Schritt. Vertreter anderer europäischer Staaten sind hingegen die Ansicht, dass ein Abbruch der Verhandlungen in der jetzigen Situation mehr schaden als nützen würde. |