Sie stellen sich in Fussgängerzonen in Schweizer Städten auf und verteilen, friedfertig lächelnd, den «edlen Koran in deutscher Sprache». Doch schon länger gibt es Vorwürfe, hinter der freundlichen Fassade würde eine zumindest problematische Auslegung des Islam propagiert.
‹Lies!› verteilt Hassschriften, die zum Mord an Nicht-Muslimen aufrufen. Es ist unglaublich, dass so etwas in der Schweiz überhaupt möglich ist.
SVP-Nationalrat Walter Wobmann formuliert es so: «Das ist im Grunde eine Propaganda-Abteilung des Islamischen Staates und Al-Kaida.»
In einer Motion forderte Wobmann, die «Rekrutierungsveranstaltungen (…) in Schweizer Städten und im Internet zu unterbinden.»
Nun hat der Bundesrat Stellung zur Motion genommen – und ein differenziertes Urteil über die «Lies!»-Standaktionen gefällt:
So beurteilt der Bundesrat «Lies!»
«Dem Bundesrat ist bekannt, dass «Lies!» Standaktionen dazu genutzt werden können, um am Islam interessierte Personen anzusprechen und zu indoktrinieren, oder aber dazu, bereits radikalisierten Personen eine Plattform zu bieten, um sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen und einschlägige Kontakte herzustellen. Grundsätzlich stellen aber Koran-Verteilaktionen für sich alleine genommen keine Bedrohung der inneren oder äusseren Sicherheit der Schweiz dar.» |
Auch der Bundesrat sieht die Verteilaktionen also kritisch. Er will sie aber vorerst nicht verbieten – aus rein juristischen Gründen: Die Hürden dafür seien im Nachrichtendienst-Gesetz zu hoch. Der Bundesrat begrüsst es aber, wenn die Kantone die Bewilligung zu Standaktionen verweigern. Zudem stellt er eine Gesetzesänderung für ein Organisationsverbot in Aussicht.
Das klingt zumindest nach einem Teil-Erfolg für SVP-Mann Wobmann. Im Gespräch mit SRF News zeigt er sich allerdings wenig erfreut: «Der Bundesrat reicht die heisse Kartoffel einfach an die Kantone weiter. Das ist etwas feige.» «Lies!» lege den Nährboden für den radikalen Islam, genauso wie der Bieler Hassprediger. Von Seiten des Bundes seien nun «Sofortmassnahmen» gefragt.
Wenn man Standaktionen verbietet, ist das Milieu nicht aus der Welt. Es besteht weiter, genauso wie die Ansichten.
Die Grenzen der Freiheit
Nutzt «Lies!» die verfassungsmässig garantierten Freiheitsrechte in der Schweiz, um eben diese Rechte auszuhöhlen? Ist die Verteilaktion sogar ein Rekrutierungsbecken für Dschihadisten?
Andreas Tunger vom Zentrum Religionsforschung der Universität Luzern ist gegen pauschale Urteile: Es gebe viele Schattierungen von Salafisten, und «es braucht heute kein Verbot, weil schlicht belastbare Beweise fehlen, dass bei diesen Aktionen gezielt Leute für terroristische Handlungen angeworben werden».
Loser Verbund oder straffe Organisation?
Allerdings sagt auch der Bundesrat, dass die Kampagne «wahrscheinlich» dazu beitrage, dass junge Menschen in den Dschihad ziehen. Braucht es erst einen Anschlag in der Schweiz, um diese «These» zu untermauern?
«Nein. Aber es braucht erst einmal Beweise, dass die Organisation in der Schweiz überhaupt mit eigenen Strukturen existiert. Und es braucht Beweise, dass diese Strukturen genutzt werden, um entsprechende Ziele zu verfolgen.» Diese Beweise lägen dem Nachrichtendienst nicht vor.
Wobmann will solche Einwände nicht gelten lassen: «‹Lies!› verteilt Hassschriften, die zum Mord an Nicht-Muslimen aufrufen. Es ist unglaublich, dass so etwas in der Schweiz überhaupt möglich ist.»
Immerhin: Der Bundesrat stützt und ermutigt die Kantone, die Verteilaktionen zu untersagen. «Wenn alle Kantone und Städte das machen würden, wäre das natürlich gut. Ich bezweifle aber, dass das passiert», sagt Wobmann.
Diskriminierung und Radikalisierung
Islamwissenschaftler Tunger meldet derweil Zweifel an, dass dem radikalen Islam mit Gesetzen allein beizukommen ist: «Wenn man die Standaktionen oder Organisationen verbietet – sofern es sie überhaupt in der Schweiz gibt – ist das Milieu nicht aus der Welt.»
Deswegen brauche es «zusätzliche, andere Antworten». Dabei sieht Tunger auch die Mehrheitsgesellschaft in der Pflicht: «Solange junge Menschen, die ihren Islam sichtbar leben, Probleme haben, sich in der Schweiz zu engagieren, kann man sie nicht zu 100 Prozent gewinnen.»
Manche Muslime hätten das Gefühl, in der Schweiz als «Bürger zweiter Klasse zu leben»; zu spüren bekämen sie das etwa bei der Wohnungs- oder Lehrstellensuche. Der Islam-Experte schliesst: «Wenn man auf diesem Gebiet Diskriminierungen abbaut, gewinnt man viele engagierte Verbündete.»