Darum geht es: Heute Samstag wird die FDP einen ersten Entscheid treffen: Braucht es für die neuen Verträge mit der EU ein doppeltes Ja oder nicht? Müssen also bei der Volksabstimmung neben der Mehrheit der Abstimmenden auch eine Mehrheit der Kantone im Ja-Lager sein?
Bei den EU-Verträgen: Die Frage nach dem Ständemehr ist die Gretchenfrage im umstrittenen EU-Dossier. Der Bundesrat findet, das Ständemehr brauche es nicht, es reiche das fakultative Referendum. Dies hat er im Frühling entschieden. Bei einem obligatorischen Referendum bräuchte es für eine Zustimmung wiederum ein doppeltes Ja von Volk und Ständen. Ein solches hatten insbesondere Gegnerinnen und Gegner des neuen Vertragspakets gefordert. Die Hürde für ein Ja zu den Verträgen wäre dann nämlich weit höher. Die Praxis ist uneinheitlich: Bei der Abstimmung über den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) hatte sich die Politik für das obligatorische Referendum entschieden, bei der Abstimmung über die ersten bilateralen Verträge 1999 dagegen.
Die Idee hinter dem Ständemehr: Bei der Gründung des Bundesstaats 1848 galt das Ständemehr als ein Eckpfeiler des Föderalismus. Dieser fusst auf der Gleichheit von Gliedstaaten, die eigentlich nicht gleich sind. Es ging darum, die im Sonderbundskrieg unterlegenen Kantone vor einer Majorisierung (Überstimmung) durch die grossen, liberalen Kantone im Mittelland zu schützen. Man wollte die ländlichen, katholischen Kantone in den damals jungen Bundesstaat integrieren. Sie waren die Verlierer im letzten Schweizer Bürgerkrieg 1847, besiegt von den grossen liberalen Kantonen.
Muss man die konservativen Gebiete heute noch schützen?
Das bedeutet das Ständemehr heute: Heute, dies zeigen verschiedene Studien, nützt das Ständemehr den kleineren Landkantonen in der Inner- und Ostschweiz noch immer. «Benachteiligt» werden neben den «Grossen» Zürich und Bern auch die urbanen Zentren sowie die Romandie. Sean Müller, Politologe an der Universität Lausanne sagt: Das Prinzip, dass man Föderalismus und Demokratie bei wichtigen Entscheiden einbezieht, sei völlig adäquat. Aber: «Für Veränderungen braucht es immer das doppelte Ja: jenes des Volkes und der Kantone. Somit hat es die progressivere Seite immer etwas schwieriger als die andere», so Müller weiter. «Das Ständemehr macht heute eigentlich noch das, für das es 1848 erfunden wurde: Es schützt die konservativen Gebiete. Die angebrachte Frage ist aber: Muss man diese heute auch noch schützen?»
Am Ständemehr gescheiterte Verfassungsvorlagen: Es passiert nicht oft, dass eine Vorlage zwar das Volksmehr, nicht aber das Ständemehr erreicht. Seit 1866 war dies zehn Mal der Fall. Das letzte Mal 2020: Die Konzernverantwortungsinitiative erhielt zwar ein Volks-Ja mit 50.7 Prozent aller Stimmen, eine Mehrheit der Kantone lehnte die Vorlage aber ab.
Europa-Abstimmungen in der Vergangenheit: 1992 stimmte das Schweizer Stimmvolk über den EWR ab. Das Volks-Nein war mit einem Nein-Anteil von 50.3 Prozent knapp. Die Mehrheit der Stände, die die Vorlage ablehnte, war deutlich: 18 von 26 Kantonen sagten Nein. Pikanterweise hätte bei den Abstimmungen über die Bilaterale I und Bilaterale II (Schengen und Dublin) ein Nein resultiert, wenn ein Ständemehr nötig gewesen wäre – war es aber nicht.