Zum Inhalt springen

Header

Zur Übersicht von Play SRF Audio-Übersicht

Die Macht der Kantone Die EU-Verträge, das Ständemehr und die Idee dahinter

Wenn es um die neuen Abkommen mit der EU geht, wird auch über das Ständemehr diskutiert. Die Idee dahinter: Mehr Macht für die bevölkerungsarmen Kantone.

Darum geht es: Heute Samstag wird die FDP einen ersten Entscheid treffen: Braucht es für die neuen Verträge mit der EU ein doppeltes Ja oder nicht? Müssen also bei der Volksabstimmung neben der Mehrheit der Abstimmenden auch eine Mehrheit der Kantone im Ja-Lager sein?

Bei den EU-Verträgen: Die Frage nach dem Ständemehr ist die Gretchenfrage im umstrittenen EU-Dossier. Der Bundesrat findet, das Ständemehr brauche es nicht, es reiche das fakultative Referendum. Dies hat er im Frühling entschieden. Bei einem obligatorischen Referendum bräuchte es für eine Zustimmung wiederum ein doppeltes Ja von Volk und Ständen. Ein solches hatten insbesondere Gegnerinnen und Gegner des neuen Vertragspakets gefordert. Die Hürde für ein Ja zu den Verträgen wäre dann nämlich weit höher. Die Praxis ist uneinheitlich: Bei der Abstimmung über den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) hatte sich die Politik für das obligatorische Referendum entschieden, bei der Abstimmung über die ersten bilateralen Verträge 1999 dagegen.

Das steht in der Bundesverfassung – und die Diskussion darum

Box aufklappen Box zuklappen

Die meisten Staatsverträge unterliegen nur dem Volksmehr. Laut Bundesverfassung müssen nämlich nur Änderungen der Bundesverfassung, der Beitritt zu supranationalen Organisationen sowie dringlich erklärte Bundesgesetze (nachträglich) sowohl Volk als auch Ständen unterbreitet werden.

Ein Gutachten des Bundesamtes für Justiz kam deshalb zum Schluss, es fehle eine verfassungsrechtliche Grundlage dafür, die EU-Verträge dem Ständemehr zu unterstellen. Seither tobt ein politischer Streit, ob die EU-Verträge ausnahmsweise freiwillig und gestützt auf Gewohnheitsrecht dem Ständemehr unterstellt werden können – das ist in der Geschichte drei Mal vorgekommen. Damit würde ein Ja zu den wichtigen EU-Verträgen demokratisch besonders legitimiert.

Die Gegner argumentieren rechtspositivistisch: Das Ständemehr sei bei dieser Art von Verträgen in der Verfassung einfach nicht vorgesehen und ein Gewohnheitsrecht gebe es trotz der drei Fälle nicht, da Parlament und Stimmvolk sich inzwischen gegen das Ständemehr bei Staatsverträgen ausgesprochen hätten. Das letzte Wort hat das Parlament.

Die Idee hinter dem Ständemehr: Bei der Gründung des Bundesstaats 1848 galt das Ständemehr als ein Eckpfeiler des Föderalismus. Dieser fusst auf der Gleichheit von Gliedstaaten, die eigentlich nicht gleich sind. Es ging darum, die im Sonderbundskrieg unterlegenen Kantone vor einer Majorisierung (Überstimmung) durch die grossen, liberalen Kantone im Mittelland zu schützen. Man wollte die ländlichen, katholischen Kantone in den damals jungen Bundesstaat integrieren. Sie waren die Verlierer im letzten Schweizer Bürgerkrieg 1847, besiegt von den grossen liberalen Kantonen.

Muss man die konservativen Gebiete heute noch schützen?
Autor: Sean Müller Politologe, Universität Lausanne

Das bedeutet das Ständemehr heute: Heute, dies zeigen verschiedene Studien, nützt das Ständemehr den kleineren Landkantonen in der Inner- und Ostschweiz noch immer. «Benachteiligt» werden neben den «Grossen» Zürich und Bern auch die urbanen Zentren sowie die Romandie. Sean Müller, Politologe an der Universität Lausanne sagt: Das Prinzip, dass man Föderalismus und Demokratie bei wichtigen Entscheiden einbezieht, sei völlig adäquat. Aber: «Für Veränderungen braucht es immer das doppelte Ja: jenes des Volkes und der Kantone. Somit hat es die progressivere Seite immer etwas schwieriger als die andere», so Müller weiter. «Das Ständemehr macht heute eigentlich noch das, für das es 1848 erfunden wurde: Es schützt die konservativen Gebiete. Die angebrachte Frage ist aber: Muss man diese heute auch noch schützen?»

Am Ständemehr gescheiterte Verfassungsvorlagen: Es passiert nicht oft, dass eine Vorlage zwar das Volksmehr, nicht aber das Ständemehr erreicht. Seit 1866 war dies zehn Mal der Fall. Das letzte Mal 2020: Die Konzern­verantwortung­sinitiative erhielt zwar ein Volks-Ja mit 50.7 Prozent aller Stimmen, eine Mehrheit der Kantone lehnte die Vorlage aber ab.

«Swing Kantone» bei EU-Abstimmungen

Box aufklappen Box zuklappen
Reihe von kantonalen Flaggen an einem Gebäude.
Legende: Braucht es für die Zustimmung zu den EU-Verträgen auch die Zustimmung der Mehrheit der Kantone? KEYSTONE/Urs Flueeler

Bei EU-Fragen zählt der Politologe Sean Müller die Kantone Bern, Solothurn, Luzern, Graubünden und Aargau zu den «Swing Kantonen». «Dies aufgrund des Durchschnitts der Zustimmung zur EU-Integration in allen 15 bisherigen die EU betreffenden Volksabstimmungen.»

Martina Mousson von GFS Bern hingegen findet – gestützt auf die Kantonsergebnisse aller europapolitischen Abstimmungen seit der EWR-Abstimmung – vor allem die katholischen Halbkantone und die Ostschweiz sind entscheidend für das Ständemehr – also die konservative, schwankende Mitte. «Kantone wie Nidwalden, Obwalden, Uri oder Thurgau bewegen sich erfahrungsgemäss genau auf der Kippe: Sie haben bei früheren Europa-Referenden teils knapp Ja, teils knapp Nein gestimmt.» Wer ein Ständemehr erreichen wolle, müsse also weniger Zürich oder Genf überzeugen, sondern vielmehr die Mitte des Landes. Dort entscheide sich die europapolitische Stimmung. Die urbane Schweiz (Zürich, Genf, Basel-Stadt und Waadt) bleibe stabil proeuropäisch.

Europa-Abstimmungen in der Vergangenheit: 1992 stimmte das Schweizer Stimmvolk über den EWR ab. Das Volks-Nein war mit einem Nein-Anteil von 50.3 Prozent knapp. Die Mehrheit der Stände, die die Vorlage ablehnte, war deutlich: 18 von 26 Kantonen sagten Nein. Pikanterweise hätte bei den Abstimmungen über die Bilaterale I und Bilaterale II (Schengen und Dublin) ein Nein resultiert, wenn ein Ständemehr nötig gewesen wäre – war es aber nicht.

Tagesschau vom 16.10.2025, 19:30 Uhr;liea

Meistgelesene Artikel