Die eidgenössischen Räte empfehlen dem Stimmvolk ein Nein zur Volksinitiative «Keine 10-Millionen-Schweiz» der SVP.
Wie der Nationalrat lehnt auch der Ständerat das Volksbegehren ab, das die Zuwanderung beschränken will.
Ein Ja zur Initiative würde den Wohlstand und die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz ernsthaft gefährden, so der Tenor der Mehrheit während der Debatte.
Die Annahme des Volksbegehrens würde in letzter Konsequenz bedeuten, dass das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU gekündigt werden müsste, argumentierte die Gegnerschaft. Dies, wenn die Bevölkerung der Schweiz vor 2050 auf mehr als zehn Millionen Menschen anwüchse. Dabei sei der bilaterale Weg für den Wohlstand der Schweiz wichtig. Ihn dürfe man nicht gefährden.
Tiana Angelina Moser (GLP/ZH) sagte etwa, 45 Prozent der an Schweizer Spitälern arbeitenden Ärztinnen und Ärzte hätten ein ausländisches Diplom. Auf diese Leute könne die Schweiz nicht verzichten.
Das will die Volksinitiative «Keine 10-Millionen-Schweiz»
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Darum geht es: Die Volksinitiative der SVP, auch bekannt unter dem Namen «Nachhaltigkeitsinitiative», will das Bevölkerungswachstum mittels fixer Zahl in der Verfassung begrenzen. Konkret soll die Einwohnerzahl vor dem Jahr 2050 nicht mehr als zehn Millionen Menschen betragen. Damit möchte die Partei eine nachhaltige Entwicklung der Schweiz gewährleisten.
Das ist umstritten: Der Bundesrat und die staatspolitische Kommission des Nationalrats anerkennen zwar, dass die Zuwanderung für die Schweiz eine Herausforderung ist. Doch die Initiative gefährde den bilateralen Weg mit der EU und damit auch den privilegierten Zugang zum europäischen Binnenmarkt. Arbeitsplätze und Wohlstand stünden damit auf dem Spiel. Es bestünde zudem die Gefahr, dass die Schweiz nicht weiter am Schengen- und Dublin-System teilnehmen könnte. Dies dürfte zu mehr irregulärer Migration und einer höheren Zahl von Asylsuchenden in der Schweiz führe.
Der Mechanismus der Initiative: Der Initiativtext besagt, dass Bundesrat und Parlament Massnahmen ergreifen müssten, wenn die Neuneinhalb-Millionen-Grenze vor 2050 überschritten wird. Wenn der Grenzwert nach Ablauf von zwei Jahren seit seiner erstmaligen Überschreitung nicht wieder eingehalten werden kann, müsste die Schweiz Freizügigkeitsabkommen mit der EU kündigen.
Aktueller Stand: Der Bundesrat lehnt die Initiative ohne Gegenvorschlag ab, plant aber diverse Begleitmassnahmen. Beispielsweise prüft der er, ob Menschen ohne Chance auf Asyl vom Asylverfahren ausgeschlossen werden können. Oder die Behörden sollen gezielter untersuchen, ob vorläufig aufgenommene Menschen nicht in ihre Heimat zurückkehren können. Auch der Nationalrat lehnt die Initiative ohne Gegenvorschlag ab – nach einer Monsterdebatte in der Herbstsession. Auch der Ständerat hat jetzt die Initiative ohne Gegenvorschlag abgelehnt.
Für die Initiative sprachen nur die SVP-Ratsmitglieder sowie Mauro Poggia (MCG/GE). Esther Friedli (SG) sagte, das Problem der «masslosen Zuwanderung» müsse endlich an der Wurzel gepackt werden. Es brauche neue Instrumente und Neuverhandlungen von bestehenden Abkommen. Die Initiative sei eine «sinnvolle Variante, um die Zuwanderung wieder selber zu steuern und zu begrenzen».
Mit 29 zu 9 Stimmen bei 6 Enthaltungen stimmte der Ständerat für den Antrag der vorberatenden Kommission, dem Stimmvolk zu empfehlen, die Initiative abzulehnen. Formell muss dieser Beschluss noch in die Schlussabstimmungen des Parlaments am Ende der Wintersession.
Jans: Deckel draufhalten bringt nichts
Mit ihrer «Nachhaltigkeitsinitiative» will die SVP erreichen, dass die ständige Schweizer Wohnbevölkerung ab dem Jahr 2050 nicht oder allenfalls nur wegen des Geburtenüberschusses über die Marke von zehn Millionen Menschen steigt.
Bundeshausredaktorin: «Gegenprojekt auch im Ständerat chancenlos»
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Einschätzung von SRF-Bundeshausredaktorin Christine Wanner
Zuwanderung begrenzen oder die Bilateralen beenden: vor dieses Ultimatum stelle die Initiative «Keine 10 Millionen Schweiz» aus SVP-Kreisen der Stimmbevölkerung – so formulierte es Nationalrat Gerhard Pfister. Der frühere Partei-Präsident der Mitte macht sich seit längerem stark für einen Gegenvorschlag zu Initiative. Auch sein Nachfolger Philipp Matthias Bregy tut das mit der Begründung, die Politik müsse die Ängste der Bevölkerung ernst nehmen und Antworten bieten, sonst gefährde das die Bilateralen III.
Doch bisher blieb ein Gegenprojekt chancenlos: sowohl der Bundesrat als auch der Nationalrat lehnten es ab. Letzte Hoffnung: der Ständerat, wo die Mitte die stärkste Kraft ist. Mit Unterstützung der FDP liegen drei Vorschläge auf dem Tisch der kleinen Kammer. Doch sie entscheidet sich mit 29 zu 15 Stimmen dagegen.
Die mitte-bürgerlichen Kräfte hinter den Gegenvorschlägen befürchten, dass es bei der Abstimmung über die Initiative «Keine 10 Millionen Schweiz» ausgehen könnte wie bei der SVP-Initiative «Gegen die Masseneinwanderung» im Februar 2014. Diese wurde – wider Erwarten – angenommen, wenn auch hauchdünn mit 50.3 Prozent der Stimmen sowie Ständemehr. Dieses Ja erschütterte die Beziehung Schweiz – EU.
Bundesrat Beat Jans sagte dazu, die Initiative löse kein einziges Problem, sondern schaffe nur neue. Wenn jemand ein Problem habe, könne man nicht einfach den Deckel drauf halten, sondern müsse das Problem lösen. Tag für Tag arbeiteten in der Schweiz Fachleute etwa in der Raumplanung und dem Immobilienwesen an der Lösung von Problemen.
Mit der konkretisierten Schutzklausel in den neuen bilateralen Verträgen der Schweiz mit der EU verfüge die Schweiz sogar über eine Art Notbremse für die Zuwanderung – ohne dass diese den bilateralen Weg gefährde.
Keine Chance für Gegenentwürfe
Viel zu reden gab auch die Frage, ob der Ständerat das Volksbegehren mit einem Gegenvorschlag zur Abstimmung bringen solle. Drei Varianten für einen solchen Gegenentwurf lagen dem Ständerat vor. Sie drehten sich um eine Zuwanderungsbeschränkung im Sinn einer verfassungsrechtlichen Schutzklausel, einer Zuwanderungsabgabe und um die Möglichkeit einer separaten Abstimmung über die Kündigung der Personenfreizügigkeit.
Die Urheberinnen und Urheber der Anträge sagten, die SVP-Initiative habe Chancen auf eine Annahme an der Urne. Das zeigten Umfragen. Es sei ein Risiko, die Zuwanderungsinitiative dem Volk ohne Gegenentwurf vorzulegen.
Die Gegner hielten dem entgegen, es sei besser, die Initiative klar und deutlich vor dem Volk zu bekämpfen.
Bereits im September lehnte der Nationalrat bei seiner Beratung der Volksinitiative einen Gegenvorschlag aus Mitte-Kreisen ab.
Mit 29 zu 15 Stimmen folgte der Ständerat dem Antrag der vorberatenden Kommission, nicht auf sie einzutreten.