Die Aufregung um das Tanz-Video der finnischen Ministerpräsidentin Sanna Marin ist exemplarisch. Und auch die öffentliche Diskussion, die etwa Bundesrat Alain Berset jüngst ausgelöst hat wegen seiner (privaten) Einsprache gegen den Bau einer Handy-Antenne. Selbst das uneheliche Kind von CVP-Politiker Christophe Darbellay schaffte es seinerzeit in die Medien. Diese Ereignisse haben nichts mit der Politik der Betroffenen zu tun – und doch spricht die Öffentlichkeit darüber. Politologin Cloé Jans erklärt, welchen Einfluss solche «Skandal»-Meldungen auf uns haben.
SRF News: Warum geriet Finnlands Ministerpräsidentin Sanna Marin unter Druck wegen eines Videos, das sie bei einer Party beim Tanzen zeigt?
Cloé Jans: Etwas zugespitzt gesagt: In der Politik ist man sich ernste, ältere Männer gewöhnt, die sich trocken zu einem Geschäft äussern. Bei Sanna Marin hat die Öffentlichkeit genau das Gegenteil zu sehen bekommen: Eine junge Frau, die ausgelassen tanzt. Das Gewohnte und das Gesehene klaffen im Fall von Marin besonders stark auseinander.
Macht es einen Unterschied, ob es um einen Mann oder eine Frau geht?
Frauen sind nun Mal weiterhin in der Minderheit in der Politik. Sowieso an der Spitze von Landesregierungen wie in Finnland. Studien zeigen, dass die Erwartungen an Frauen in Führungspositionen gnadenloser sind als bei Männern. Nachdem Bilder eines mutmasslich betrunkenen EU-Kommissionschefs Jean-Claude Juncker öffentlich wurden, hat das jedenfalls vergleichsweise geringere Wellen geworfen.
Gehört das in die Öffentlichkeit?
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Bild 1 von 6. Gesundheitsminister Alain Berset hat sich kürzlich privat gegen den Bau einer Antenne im Dorf Belfaux (FR) gewehrt. Ebenfalls für Schlagzeilen sorgte 2021 das Bekanntwerden einer angeblichen Liebesbeziehung. Offenbar hatte eine Ex-Geliebte versucht, Bundesrat Berset zu erpressen. Bildquelle: Archiv/Keystone/Peter Schneider.
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Bild 2 von 6. Die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin gibt eine Medienkonferenz in Helsinki, nachdem Party-Videos von ihr in den sozialen Medien aufgetaucht waren und Kritik ausgelöst hatten. (19. August 2022). Bildquelle: Lehtikuva/Roni Rekomaa via REUTERS .
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Bild 3 von 6. Ganz selbstverständlich? Christa Markwalder, langjährige FDP-Nationalrätin, und ihr Mann Peter Grünenfelder, Zürcher Regierungsratskandidat, erschienen kürzlich mit ihrem Baby zu einem Interview bei «Telezüri». Bildquelle: Archiv/Keystone/Gaetan Bally.
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Bild 4 von 6. Der Zuger CVP-Regierungsrat Beat Villiger (heute Die Mitte) geriet 2017 in die Schlagzeilen. Es gab Medienberichte über eine angebliche Urkundenfälschung in Zusammenhang mit einem an eine Frau ausgeliehenen Auto. Villiger gab daraufhin zu, dass er mit der Frau ein uneheliches Kind hat. Bildquelle: Archiv/Keystone/Michael Buholzer.
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Bild 5 von 6. 2016 wurde bekannt, dass der ehemalige CVP-Nationalrat und langjährige Parteipräsident Christophe Darbellay Vater eines unehelichen Kindes geworden ist. Bildquelle: Archiv/Keystone/Olivier Maire.
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Bild 6 von 6. Der damalige Badener Stadtammann Geri Müller (Grüne) stolperte 2014 über die von den Medien sogenannte «Nackt-Selfie»-Affäre. Er hatte teilweise aus seinen Amtsräumen intime Fotos an eine Chat-Partnerin geschickt. Bildquelle: Archiv/Keystone/Walter Bieri.
Welche Rolle spielen die Medien und soziale Netzwerke bei dieser Skandalisierung?
Ihre Rolle ist zentral. Klicks sind sehr wichtig geworden. Sowohl die Medien als auch Social Media funktionieren sehr stark über Nachrichtenwert, Personalisierung und Skandalisierung. Privates kommt dadurch an die Oberfläche und darauf sind gerade soziale Netzwerke ausgelegt. Dennoch haben die Berichterstattung und soziale Medien nur einen begrenzten Einfluss auf die allgemeine Meinung.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Wir sehen das bei unseren Umfragen: Aktuell führt Alain Berset die Liste der Bundesräte in Sachen Beliebtheit an. Daran hat die Berichterstattung über eine angebliche ehemalige Geliebte oder die Geschichte mit dem Flugzeug-Funkspruch nichts geändert. Die Bevölkerung schaut, wie es dem Land insgesamt geht. Das Vertrauen bleibt über längere Zeit relativ konstant.
Die Öffentlichkeit geht mit den Personen nicht so hart ins Gericht, wie es die Medien tun.
Grosse Konflikte wie etwa Korruption, welche die Performance in einem Amt substantiell beeinflussen, können zwar relevant werden. Ob jemand eine Geliebte hat, hat hingegen langfristig in der Schweiz kaum ein Gewicht. Die Öffentlichkeit geht mit den Personen nicht so hart ins Gericht, wie es die Medien tun.
Was unterscheidet die Schweiz hier von anderen Ländern?
Die Medien in der Schweiz spielen zwar auch auf den Mann oder die Frau, aber nicht in dem Ausmass wie etwa in den USA oder in Grossbritannien. Hier gibt es einen fast schon destruktiven Boulevard. Auch unsere politische Kultur hat einen Einfluss: Das Proporz-System ist ein System des Gemeinsamen. Man versucht weniger, sich gegenseitig Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Zudem gibt es weniger Berufspolitiker als anderswo. Der Milizgedanke bleibt wichtig, was auch dazu führen dürfte, dass Politiker und Politikerinnen weniger hart angegangen werden.
Inwiefern hat sich die Grenze zwischen öffentlich und privat in den letzten Jahren verschoben? FDP-Politikerin Christa Markwalder etwa hat sich jüngst mit ihrem Mann und ihrem Baby bei einem Interview gezeigt.
Grundsätzlich ist wegen der permanenten flächendeckenden Verfügbarkeit von Smartphones ein wirklich privates Setting seltener geworden. Die Grenzen sind unklarer. Man muss ständig damit rechnen, gefilmt zu werden. Es kann aber auch eine strategische Entscheidung sein, etwas öffentlich zu machen. Oder es ist ein Statement: «Ich bin Politikerin, berufstätig und Mutter. Ich muss nichts verstecken.»
Das Gespräch führte Andrée Getzmann.