Junge Menschen in der Schweiz verbringen einen grossen Teil ihres Lebens online. Rund sechseinhalb Stunden täglich sind die 14- bis 19-Jährigen im Schnitt am Handy – Männer mehr als Frauen. Einen Grossteil dieser Zeit verbringen sie auf sozialen Medien. Die beliebteste App dabei: Tiktok.
Die Social-Media-Plattform aus China ist bekannt für ihre Kurzvideos – und ihren Empfehlungsalgorithmus. Innerhalb von Stunden soll er sich auf die eigenen Vorlieben anpassen und einem so neue Inhalte und Themen empfehlen können. Doch diese Macht bringt auch Verantwortung mit sich. Tiktok schreibt auf der eigenen Website: Um Minderjährige besonders zu schützen, filtere Tiktok problematische Inhalte und Themenfelder heraus. Doch funktioniert das wirklich?
Um das zu testen, hat SRF ein Experiment gestartet und auf Tiktok fünf neue Profile für 15-jährige Schweizer erstellt. Ihr Scrollverhalten wird per Computer ferngesteuert. Jeder Account bekommt eigene Interessen, die denjenigen von vielen jungen Männern entsprechen. Einer interessiert sich zum Beispiel dafür, wie man schnell reich wird. Ein anderer will attraktiver aussehen und sehnt sich nach einem Sixpack. Sein Code-Name: Robert.
Robert meldet sich neu bei Tiktok an. Als Grundinteressen gibt er am Anfang unter anderem «Gaming», «Sport» und «Fussball» an, dann sucht er als Erstes nach «Sixpack». Und die Reise beginnt.
Manosphere ist ein Sammelbegriff für verschiedene Subkulturen von meist jungen Männern, die auf Tiktok äusserst erfolgreich sind und die vor allem eines eint: Der Glaube an die männliche Überlegenheit, die Abneigung gegenüber Gleichstellung und Feminismus sowie die Vorstellung, dass Männer die wahren Opfer der Gesellschaft sind. Influencer aus der Manosphere agieren stark über Abwertung und überzeichnete Männerbilder. Ein Mann müsse hart, diszipliniert und gefühlskalt sein, damit aus ihm ein «echter Mann», ein Alpha-Mann, werde: reich, muskulös und unabhängig.
Eine aktuelle Studie des englischen Männerforschungsinstituts Movember zeigt, dass junge Männer, die regelmässig Manosphere-Inhalte konsumieren, über eine schlechtere psychische Gesundheit verfügen. Sie fühlen sich deutlich häufiger wertlos, nervös und traurig. Gleichzeitig sind sie weniger dazu bereit, ihre psychische Gesundheit zu priorisieren.
Nach fünf Minuten erster Kontakt zur Manosphere
Robert musste nach seiner Registrierung nur 76 Sekunden auf Tiktok scrollen, bis ihm der Empfehlungsalgorithmus das erste Video aus der Manosphere anzeigte. Und auch den anderen Accounts, die SRF im Experiment einsetzte, ging es ähnlich. Im Schnitt servierte Tiktok den vermeintlichen 15-jährigen Schweizern nach fünf Minuten das erste Video mit klaren Manosphere-Inhalten. Und bei jenen Accounts, die sich für diese Inhalte empfänglich zeigten, vergingen meist weniger als 20 Minuten, bis bei ihnen der Grossteil des Feeds aus Gateway- oder Manosphere-Inhalten bestand.
Nach über 70 Stunden auf Tiktok zeigen sich grosse Unterschiede zwischen den Accounts. Wer länger auf Fitness-, Motivations- und Business-Content verweilte und damit Interesse signalisierte, bekam von Tiktok auch stetig mehr Inhalte aus der Manosphere oder zu verwandten Themen (Details siehe Methodenbox). Nach kurzer Zeit stammte jedes zweite Video in den «For You»-Feeds aus dieser Ecke. Ganz anders der Kontroll-Account, der ohne spezielle Interessensbekundungen durch Tiktok scrollte und nur selten Manosphere-Videos zu Gesicht bekam.
Dominik Hammer forscht für den Thinktank Institute for Strategic Dialogue zur Manosphere und hat an einer der grössten Studien zum Phänomen im deutschsprachigen Raum mitgearbeitet. Für ihn sind Fitnessinhalte und solche über das Reichwerden typische Einstiegsthemen in die Manosphere, sogenannte Gateways. «Gerade junge Männer fragen sich oft: Wer will man sein? Wie kann man sich verbessern? Und da lockt die Manosphere mit vermeintlich einfachen Antworten.» Influencer aus der Manosphere würden systematisch auf dieses Publikum abzielen und versuchen, in ihre Feeds zu gelangen – mit Erfolg. Hammer sieht hier eine Verantwortung bei Tiktok, dass man solche Inhalte nicht in die Feeds Minderjähriger spülen, sondern verantwortungsvoll damit umgehen sollte.
Auf Anfrage schreibt Tiktok, dass man keine Hassrede erlaube und keine hasserfüllten Ideologien fördern würde. Man nutze eine Kombination aus Technologien und Moderationsteams, um solche Inhalte zu identifizieren und zu entfernen. Ausserdem könnten Nutzer selbst Filter setzen und algorithmische Empfehlungen deaktivieren.
Doch das Experiment beweist: Tiktoks Algorithmen helfen offenbar nicht nur dabei, junge Männer ungefragt in die Manosphere zu locken. Sie können auch aktiv zur weiteren Radikalisierung der Feeds beitragen, wie das Beispiel von Robert zeigt.
Abgedriftet in die Looksmaxing-Welt
Der zweite Kipppunkt kündigt sich nach 5 Stunden und 15 Minuten an. Dann erscheint das erste Video einer Strömung, die düsterer ist als die vorangegangenen. Es geht um «Looksmaxing». In dieser Community dreht sich alles ums Aussehen. Dieses wird als zentral für den Erfolg im Leben angeschaut. «Looksmaxer» orientieren sich an unwissenschaftlichen Theorien und teilen oft unbelegte Methoden, um das eigene Aussehen zu verbessern. Es geht nicht lange und Roberts Feed ist voll davon.
Auf Tiktok sind Übungen geteilt, um den eigenen Kiefer kantiger oder den Hals länger zu machen. Teilweise werden auch Schönheitsoperationen empfohlen. Immer wieder werden auch extreme, fragwürdige Techniken wie etwa sogenanntes «Bonesmashing» beworben, wobei sich Looksmaxer mit einem Hammer selbst Gesichtsknochen brechen, in der Hoffnung, dass Kiefer oder Stirnhöhlen danach kantiger zusammenwachsen.
Für den Forscher Dominik Hammer ist Looksmaxing eine radikale Form von Selbstoptimierung, die auch in Selbstverletzung enden könne. Doch das sei nicht alles. Denn in dieser Community ist es sehr verbreitet, andere Menschen, die nicht einem hypermaskulinen Männerbild entsprechen, abzuwerten.
Von Fitness zum Frauenhass
Dann werden die Inhalte von Roberts Feed noch extremer. Immer häufiger mischen sich Hashtags wie #blackpill oder #bp in seinen Feed. Robert ist bei Inhalten der sogenannten Incel-Bewegung gelandet. Teils landen hier Männer, die nach fehlgeschlagenen Selbstoptimierungsversuchen resigniert haben, sagt Hammer. «Blackpill ist die komplette Resignation – und geht oft einher mit sehr drastischem Selbsthass und Hass auf andere, der zum Ausdruck gebracht wird.»
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In den Tiktok-Beiträgen, die Robert serviert werden, werden zwischen den Zeilen Frauenhass und Aufrufe zu Gewalt gegen Frauen propagiert. Weil Tiktoks Algorithmen hier regelmässig eingreifen und Inhalte löschen, passt sich die Community immer wieder an und nutzt neue Begriffe, Codes und Memes, um ihre Sicht auf Tiktok zu verbreiten: Dass die Welt am Abgrund stehe, und dass daran die Frauen schuld seien.
SRF hat in Roberts Feed Hunderte von Videos entdeckt, die klar gegen die Nutzungsbedingungen von Tiktok verstossen. Alle Beispiele, die Tiktok bei einer Anfrage vorgelegt bekommen hat, wurden umgehend gelöscht. Doch hier zeigt sich, wie problematisch die Empfehlungen von Tiktok sind. Statt erst zu prüfen und danach die Inhalte an minderjährige Nutzer zu empfehlen, läuft es umgekehrt. Auf Anfrage schreibt Tiktok, man würde bereits vorher einen Grossteil der problematischen Inhalte herausfiltern und jeden Inhalt prüfen, den Nutzer melden. Doch der Fall von Robert zeigt: Trotz aller Massnahmen können Schweizer Jugendliche weiterhin in den toxischen Sog der Manosphere geraten.