Doris Bianchi ist seit rund 100 Tagen Direktorin des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV). Gegenüber SRF gibt sie ihr erstes Interview in dieser Funktion und erklärt, warum das Rentenalter nicht erhöht werden muss und warum die IV mehr Geld benötigt.
SRF News: Frau Bianchi, Sie sind seit 100 Tagen im Amt. Sind Sie schon angekommen?
Doris Bianchi: Ich bin auf einen fahrenden Zug aufgesprungen. Bei den Sozialversicherungen gibt es nie Stillstand. Aber es ist ein Thema, das mir gefällt und bei dem ich mich wohlfühle. Ich spüre eine grosse Verantwortung: Was wir tun, betrifft den Alltag der Menschen sehr direkt.
Der Bundesrat hat gestern erklärt, dass er das Rentenalter bei 65 Jahren belassen will. Warum nicht erhöhen, wo wir doch immer länger leben?
Ein höheres Rentenalter ist aus finanziellen Gründen zurzeit nicht nötig.
Es soll zur Normalität werden, freiwillig auch über das Referenzalter hinaus zu arbeiten.
Die AHV profitiert von einem starken Arbeitsmarkt mit tiefen Arbeitslosenzahlen. Zudem haben wir bereits mit der AHV 21 eine grosse Flexibilisierung eingeführt. Es soll zur Normalität werden, freiwillig auch über das Referenzalter hinaus zu arbeiten. Ein höheres Rentenalter wäre da ein falscher Schritt.
Der Bundesrat will Frühpensionierungen weniger attraktiv machen. Er schlägt vor, dass man das ersparte Geld aus der zweiten und dritten Säule frühstens mit 63 Jahren beziehen kann, analog zur AHV. Was haben Sie gegen Frühpensionierungen?
Man muss die verschiedenen Säulen als gemeinsame Vorsorge denken. Darum ergibt eine Anpassung Sinn. Wir sehen in unseren Statistiken, dass sich vor allem Personen frühpensionieren lassen, die über sehr viel Kapital in der Pensionskasse verfügen. Es geht also auch um Gerechtigkeit, dass nicht Leute privilegiert werden, die sowieso schon sehr gute Löhne haben. Es gibt immer auch Möglichkeiten für Teilpensionierungen, wenn der Arbeitgeber mitmacht.
Ein anderes Bild zeigt sich bei der IV. Sie steckt tief in den roten Zahlen. Was ist da los?
Die IV hat eine schwierige Ausgangslage. Wir sehen eine starke Zunahme an neuen Renten, gerade auch bei jungen Menschen. Mehr als die Hälfte der neuen Renten wird wegen psychischer Erkrankungen gesprochen. Gleichzeitig decken die Einnahmen die Ausgaben nicht mehr.
Ohne eine Zusatzfinanzierung wird sich die IV nicht stabilisieren.
Was wollen Sie dagegen tun?
Ohne eine Zusatzfinanzierung wird sich die IV nicht stabilisieren. Wir brauchen mehr Geld, sei es über Lohnbeiträge oder die Mehrwertsteuer. Gleichzeitig müssen wir bei den Leistungen ansetzen. Für einen jungen Menschen ist eine lebenslange Rente oft keine attraktive Perspektive.
Das heisst, Sie wollen die IV-Rente für Junge unattraktiver machen?
Wir müssen jungen Menschen eine Perspektive im Leben bieten. Das kann ein engeres Coaching sein, eine bessere Zusammenarbeit mit den Ärztinnen und Ärzten und eine finanzielle Unterstützung, die nicht zwingend eine lebenslange Rente bedeutet, befristete Renten sind denkbar.
Jeder vermiedene Rentenfall stärkt das Selbstwertgefühl der Betroffenen.
Der Bundesrat wird sich im Januar dazu äussern. Jeder vermiedene Rentenfall stärkt das Selbstwertgefühl der Betroffenen und entlastet die IV.
Sie haben mal beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund gearbeitet. Wie viel Gewerkschafterin steckt noch in Ihnen?
Ich bin sehr verbunden mit der Idee der Sozialpartnerschaft. Sie ist ein Motor der sozialen Sicherheit in der Schweiz. Auch bei den Sozialversicherungen geht es meistens darum, eine austarierte Kompromisslösung zu finden. Den Ausgleich von verschiedenen Interessen zu finden, ist ein Erfolgsrezept der Schweiz.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.