Lisa Osswald hätte sich keinen schöneren Tag zum Langlaufen aussuchen können. Kein Wölkchen am tiefblauen Himmel über der Loipe. Es ist Frühlingsanfang, aber die Hügel und Felder rund um das malerische Bergdorf La Punt-Chamues-ch sind immer noch von Schnee bedeckt.
Lisa ist aus Bayern ins Engadin angereist. Sie liebt die Berge und verbringt jede freie Minute draussen in der Natur. Nur: Viele freie Minuten hat Lisa momentan nicht.
«Ferien liegen momentan nicht drin, theoretisch könnte ich gar nicht weg», erzählt Lisa, als sie nach einer knappen Stunde Langlauf wieder an ihrem Laptop sitzt. Lisa ist hier nicht in den Ferien, sondern nimmt an den «Workation Days» teil. Ein Angebot für Menschen, die Arbeit (Work) und Ferien (Vacation) kombinieren wollen.
Selbst nur um stundenweise in der Natur zu sein, lohnt sich die weite Anreise.
Lisa arbeitet in der Nähe von München in einer Unternehmensberatung. Aufgrund von vielen Aufträgen und Vakanzen im Betrieb kann sie sich vor Arbeit kaum retten. Und doch hat sie für ein paar Tage im Engadin die über vierstündige Anreise auf sich genommen.
«So kann ich die Loipen und die Wintersaison noch ausnutzen. Selbst nur um stundenweise in der Natur zu sein, lohnt sich die weite Anreise», sagt Lisa überzeugt.
Während der «Workation Days» können Teilnehmerinnen und Teilnehmer das moderne Grossraumbüro des «Coworking Space» in La Punt für 30 Franken am Tag nutzen. Zwischendurch und am Abend werden verschiedenste Freizeitaktivitäten wie eben Langlaufen, Schneeschuhwandern oder Yoga angeboten.
Zwischen Arbeit und Erholung switchen
Doch Workations sind kein Ferienlager. «Es ist schwierig, zu planen. In meinem Beruf kann auch mal ad hoc was anstehen», räumt Lisa ein. «Dann ist man halt plötzlich wieder am Telefon, obschon man gerade auf der Loipe ist. Oder man hat kein Netz, wenn man gerade irgendwo in der Natur ist.»
Wenn man sich für eine Workation entscheide, könne es zur Herausforderung werden, zwischen Freizeit und Beruf hin- und herzuswitchen, betont Lisa. Aber: «Ich bin von der Einstellung her so flexibel, dass ich das hinbekomme.»
«Konzentriertes Arbeiten, während Well-Being-Momente die Regeneration fördern.» So lautet das Versprechen im Werbeflyer der Veranstalter der «Workation Days» von La Punt. Doch wie gesund sind solche Konzepte, die Arbeit und Erholungsphasen derart miteinander vermischen? Eine Frage, welche die Arbeitsforschung immer stärker beschäftigt.
Sogenannte Workations sind Extrembeispiele des «Work-Life-Blendings», wie das Vermischen von Job und Privatleben in der Arbeitsforschung genannt wird. Besondere Bedeutung hat dieses Phänomen mit dem Homeoffice-Boom während der Coronapandemie erhalten. Über 30 Prozent der Erwerbstätigen machen in der Schweiz regelmässig Telearbeit.
Beim Arbeiten zu Hause ist die Verschmelzung der Lebensbereiche besonders gross. Das kann ein Vorteil gegenüber traditionellen Arbeitsformen sein. «Die Forschung zeigt: Wer sich im Homeoffice autonom fühlt, hat ein grösseres Wohlbefinden», sagt Michaela Knecht, Professorin für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Denn: Die Arbeit kann an persönliche Bedürfnisse angepasst werden.
An den «Workation Days» in La Punt entscheiden die Teilnehmenden selbst, wie viel Arbeit und wie viele Ferienmomente es sein sollen.
Ein solcher Ferienmoment findet am zweiten Abend der Workation statt: eine Schneewanderung auf eine Alphütte – inklusive Fondue-Plausch und anschliessendem Nachtschlitteln. Rund zehn Personen, die diese Tage zusammen mit Lisa im Coworking arbeiten, nehmen am organisierten Ausflug teil.
Es geht mir nicht darum, Ferien zu machen. Es war heute ein sehr eng getakteter Tag – aber sehr produktiv.
Sie sind alle überzeugt vom Konzept des Work-Life-Blendings in den Bergen. «Es geht mir nicht darum, Ferien zu machen. Es war heute ein sehr eng getakteter Tag – aber sehr produktiv», sagt der IT-Unternehmer David aus Frauenfeld, ein regelmässiger Teilnehmer.
Auch Daniela aus Basel ist nicht zum ersten Mal dabei. In ihrem Job als Personalverantwortliche arbeitet sie häufig von zu Hause aus: «Homeoffice kann langweilig sein. Hier hat man die Kombination: Arbeiten und am Abend gibt’s dann Socializing. Das ist cool.»
Für Thierry, strategischer Designer aus Zürich, wirkt das Workation-Konzept inspirierend: «Wenn man kreativ sein will, braucht es manchmal eine andere Umgebung. Beim Rausgehen kommt man auf ganz neue Ideen.» Doch er räumt auch ein, dass diese Vermischung nicht nur erholsam ist: «Das Business wird nicht weniger, wenn man hierherkommt.»
Balanceakt zwischen Vermischung und Abgrenzung
Das Vermischen von Lebensbereichen kann auch ein Stressfaktor sein. «Gefährlich wird es dann, wenn sich die Arbeit ins ganze Leben ausdehnt», so Arbeitspsychologin Michaela Knecht.
Gerade Menschen, die Privates und Berufliches stark vermischen, hätten ein höheres Risiko, sich nicht mehr richtig zu erholen.
Es ist eine Typ-Frage, wie gern man die Lebensbereiche vermischt. Aber in jedem Falle ist wichtig, sich abzugrenzen, wenn es bei der Arbeit stressig ist.
Gesundheitliche Folgen können sich auf unterschiedlichste Weise zeigen: Schlafprobleme, Verspannungen, Verdauungsprobleme oder Reizbarkeit sind mögliche Symptome.
Work-Life-Blending kann eine Gratwanderung zwischen Selbstbestimmung und Stress sein. «Es ist eine Typ-Frage, wie gern man die Lebensbereiche vermischt. Aber in jedem Falle ist wichtig, sich abzugrenzen, wenn es bei der Arbeit stressig ist.» Dann sei die Erholung zentral, um gesund zu bleiben.
Wie viel Vermischung der Lebensbereiche braucht es, um mehr Selbstbestimmung und Wohlbefinden im Alltag zu erlangen? Und wie stark sollte man Berufliches und Privates voneinander abgrenzen, um sich erholen zu können? Das sind Fragen, die sich Menschen in flexiblen Arbeitsrealitäten immer bewusster stellen müssen.
In der Natur die Reserven auftanken
Stress bei der Arbeit. Das kennt die Workation-Teilnehmerin Lisa derzeit allzu gut. Längere Erholungsphasen in Form von Ferien sind bei ihr aktuell nicht in Sicht. Stattdessen räumt sie sich in der Workation kurze Ferienmomente ein.
Abgrenzung auf Stundenbasis – für manche wäre diese Art der Erholung zu wenig nachhaltig. Lisa scheint durch das bewusste Vermischen der Lebensbereiche in der Workation aber Kraft zu schöpfen: «Die Natur hier und das wunderschöne Bergpanorama geben mir sehr viel Energie. Wenn grad wieder anhaltend sehr viel los ist bei der Arbeit, dann kann ich hier meine Reserven wieder auftanken.»