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Aussenminister im Interview Ignazio Cassis: «USA haben in vieler Hinsicht nicht unrecht»

Die Schweiz präsidiert 2026 die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Bundesrat Ignazio Cassis übernimmt die Funktion des amtierenden Vorsitzenden. Im «Tagesgespräch» spricht der Schweizer Aussenminister über die USA, Russland und Europa, eine neue Weltordnung und eine Radikalisierung in der Schweiz, die den gesamten Bundesrat gefährdet.

Ignazio Cassis

Bundesrat

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Ignazio Cassis ist seit 2017 Bundesrat und Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA). Er wurde 1961 geboren, studierte Humanmedizin, promovierte an der Universität Lausanne und machte einen Master in Public Health. Von 1997 bis 2008 war er Kantonsarzt des Tessins. Cassis war dann während zweier Jahre Präsident der Bundeshausfraktion der Liberalen (FDP), der er seit seiner Wahl in den Nationalrat im Juni 2007 angehört. Von 2015 bis 2017 hatte er das Präsidium der Nationalratskommission für soziale Sicherheit und Gesundheit inne. Cassis war im Jahr 2022 Bundespräsident.

SRF News: In der neuen US-Sicherheitsstrategie von Donald Trump steht Europa in der Kritik. Ein bedrohliches Pamphlet?

Ignazio Cassis: Nein, es ist die Art, wie die USA Europa sehen. In vieler Hinsicht haben sie auch nicht unrecht. Wir haben versäumt, nach dem Zweiten Weltkrieg eine eigenständige Verteidigung zu schaffen und sind nach 80 Jahren immer noch abhängig. Was Trump Europa sagt, ist: Nehmt eure Zukunft selber in die Hand.

Es wäre illusorisch, eine Sicherheitspolitik in Europa ohne Einbezug Russlands zu denken.

Sie übernehmen den Vorsitz der OSZE, in der die USA und Russland noch gemeinsam am Tisch sitzen. Wie kann man mit einem blockierenden Russland überhaupt arbeiten?

Russland ist und bleibt in Europa. Es wäre illusorisch, eine Sicherheitspolitik in Europa ohne Einbezug Russlands zu denken. Die OSZE ist eine der letzten Organisationen, in der Russland noch volles Mitglied ist. Es ist wichtig, dass es so bleibt, denn auch mit einem Gegner ist es besser, die Möglichkeit zum Gespräch zu haben als gar keine. Obwohl sich die Mitglieder gegenseitig blockieren, schafft die Organisation Möglichkeiten für den Dialog. Mein Ziel ist, dass die OSZE auf Knopfdruck reagieren kann, sollte ein Waffenstillstand entschieden werden, um diesen dann zu überwachen.

Mann im Anzug mit roter Krawatte vor unscharfem Hintergrund.
Legende: Aussenminister Ignazio Cassis übernimmt 2026 den Vorsitz der OSZE. Reuters/MICHAEL BUHOLZER/Pool

Schweizer Wirtschaftskapitäne brachten dem US-Präsidenten Geschenke mit, um eine Lösung im Zollstreit zu finden. Stört Sie das?

Im 19. Jahrhundert wurde die Diplomatie der Schweiz praktisch ausschliesslich von Wirtschaftsleuten gemacht. Diese enge Verknüpfung ist wichtig. Alle, die Einfluss haben und der Schweiz nahestehen, sind gefordert, einen Schritt zu machen. Das taten diese Wirtschaftskapitäne. Ich habe nichts dagegen.

Der Investor Alfred Gantner wirft Ihnen vor, eine Einigung bei den Zöllen verzögert zu haben.

Das ist eine frei erfundene Geschichte. Ich habe kaum etwas erlebt, das so lange in den Medien bleibt und total frei erfunden ist. Es entbehrt jeglicher Grundlage. Der Bundesrat war selten so kompakt wie bei dieser Aktion.

Der mangelnde Respekt für Andersdenkende gefährdet den Zusammenhalt.

Sie mussten vor Kurzem in Bellinzona vor Demonstranten einer Pro-Palästina-Demo flüchten. Erleben Sie eine Radikalisierung der Gesellschaft?

Ja, ich kritisiere den mangelnden Respekt für Andersdenkende, das Gefühl, alleiniger Besitzer der absoluten Wahrheit zu sein. Das ist kein demokratisches Element. Dass diese Menschen nicht bereit sind, sich an die Regeln des Respekts zu halten, ist ein sehr schlechtes Zeichen für die Entwicklung unserer Demokratie.

Wie gefährlich ist diese Entwicklung?

Am 1. August feiern wir unsere Vielfalt. Aber diese Schönwetterreden haben keine Gültigkeit mehr, wenn harte Zeiten kommen. Der mangelnde Respekt für Andersdenkende gefährdet den Zusammenhalt. Diese Radikalisierung ist eine Gefahr für den gesamten Bundesrat: Alle Mitglieder haben bereits ähnliche Vorfälle erlebt und das Gremium hat gemerkt, wie angespannt die gesellschaftliche Lage geworden ist.

Das Gespräch führte David Karasek.

Tagesgespräch, 9.12.2025, 13 Uhr ; 

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