Wir leben in einer Zeit, in der jeder ein Künstler sein will. Der künstlerische Lebensentwurf mit seinen Vorstellungen von Kreativität und Besonderheit ist zum massenhaften Rollenideal der spätmodernen Gesellschaft geworden.
Das ist das neue Leitbild: Aus dem Leben ein Kunstwerk zu machen. Jedermann hat schliesslich heute die Möglichkeit, sich zur Wirklichkeit in ein künstlerisches Verhältnis von Imitation und Korrektur zu setzen. Und sei es nur durch einen Instagram-Filter.
Was tun mit moralisch fragwürdigen Künstlern?
In einer paradoxen Parallelbewegung werden indes an tatsächliche lebende und tote Künstler mehr Verhaltenssanktionierungen herangetragen als, sagen wir, im letzten halben Jahrhundert. Bilder werden abgehängt, Bücher revidiert oder gar nicht erst gedruckt, Schauspieler aus Filmen geschnitten.
Gibt es eine moralische Zerbrechlichkeit des Kunstwerks? Gibt es sie besonders, wenn und weil ein Kunstwerk möglicherweise von einer moralisch fragwürdigen Person geschaffen wurde? Was würde der Aufklärer Immanuel Kant dazu sagen?
Kants «Kritik der Urteilskraft»
Kant entwickelt in seiner «Kritik der Urteilskraft» im Rahmen der Analytik des Schönen stufenweise einen Begriff des Schönen. Er bestimmt diesen Begriff, auch mit Blick auf die Kunst, ausgehend vom wahrnehmenden Subjekt. Als schön werde beurteilt, was im Subjekt ein Lustgefühl erzeuge, obwohl es weder nützlich noch moralisch gut ist: Das Schöne löse ein «uninteressiertes Wohlgefallen» aus.
Der Zustand, in den das Subjekt bei der Betrachtung des Schönen gelange, sei bestimmt durch eine Harmonie zwischen Einbildungskraft und Verstand. Indem Kant zur Begründung des ästhetischen Urteils auf die Zusammensetzung der Sinneseindrücke durch Verstand und Einbildungskraft abstellt, bewirkt er eine kategorische Entmoralisierung der Ästhetik. Denn Einbildungskraft und Verstand sind für Kant zwei Erkenntnisvermögen der Urteilskraft, die a priori im Menschen angelegt und vorauszusetzen sind. Sie sind nicht per se moralische Grössen.
So begründet das Theorem vom «uninteressierten Wohlgefallen» die Autonomie der Kunst, denn mit diesem Verständnis ist eine Kunst, die belehren und bessern soll, die also auf konkrete Zwecke ausgerichtet ist – wie beispielsweise Schillers Konzept vom Theater als einer moralischen Anstalt – nicht vereinbar.
Die Kunst ist autonom
Kant würde sagen: Die Kunstgeschichte ist überreich an moralisch fragwürdigen Persönlichkeiten, aber die Kunst ist autonom, wie das aufgeklärte Individuum.
Kant, der eine Schwäche für Pointen hatte, würde sich wohl auch darüber mokieren, dass bei der moralischen Saldierung von Künstlerleben durch Teile der heutigen Nachwelt gewisse Verfehlungen augenscheinlich weniger zählen als andere: Die Morde von Cellini scheinen weniger Empörung auszulösen als der ambivalente Blick von Balthus.
Von Kant führt eine Linie über Hegels Theorie der Anerkennung bis zur Diskursethik von Jürgen Habermas, und diese Linie sagt: Kunst ist Debatte. Kunst bedeutet, symbolisch zu denken.
Kunst verdichtet und überschreitet die Wirklichkeit und bezieht sich damit auf eine metaphysische Wahrheit, und diese metaphysische Wahrheit ist universal, für alle. Der Kunst liegt die Universalität des Menschseins zugrunde, keine abgrenzenden Vorstellungen von Identität, die immer die Differenz zum mutmasslich anderen schon mitdenken.
In der Universalität liegt eine weitere Parallele zwischen Kunst und Aufklärung, und die Tatsache, dass Kunst auf das abzielt, was Kant mit Respekt und Faszination als den «metaphysischen Rest» bezeichnet hat, macht ihre Zwischenstellung deutlich, die vermittelnde Aufgabe des Künstlers, seine empathisch-zauberhafte Rolle als Mittler zwischen oberer und unterer Welt, zwischen Idee und Erscheinung, Geist und Sinnlichkeit, Verstand und Einbildungskraft. Human oder menschlich ist nicht der politische Moralist, der zensiert und instrumentalisiert, sondern der Ästhet, der Freiheit lässt. Wer Kunst mit Moral kommt, produziert hingegen: Kitsch.